Dienstag, 26. November 2013

Effet, mer, optera



 


 Sie kehren mit dem Sommer zurück, verwandeln den See vom Refugium zur Arena ihrer Balzrituale. Plärrende Bälger, Bikinimädchen, Jünglinge, schmerbäuchige Vertreter der Parentalgeneration, die auf der Suche nach lustvollen Einblicken durch das Gestrüpp wandern.
Ich war stets ein Einzelgänger, weiß um die Gefahren, die die Gemeinschaft bringt. Diesbezüglich waren meine Eltern, wenn auch unabsichtlich, gute Lehrer. Ansonsten hatten sie sich nicht großartig um unsere Bildung gekümmert. Nachtschwarze Seelen, lustgesteuerte Defätisten, die meine Geschwister und mich aus billiger Eitelkeit ins Leben zwangen, ohne auch nur einen Gedanken an die Zukunft zu verschwenden. Sie blieben nicht lange genug, um zur Rechenschaft gezogen zu werden, vergingen in einer Nacht zu Fleisch und Blut, verreckten an ihrer eigenen Geilheit. Dabei zuzusehen, wie sie krepierten, an ihren klebrigen Säften erstickten, war einer der schönsten Momente meiner Kindheit. Als ich ihre Züge in meinen Geschwistern wiederfand, wunderte es mich kaum. Sie wussten es nicht besser, rastlose Geschöpfe, die mit dem Strom trieben, nie gelernt hatten, Festzuhalten und die Idee, es zu versuchen, nicht einmal in Betracht zogen. Dazu bedarf es einer Persönlichkeit wie der meinen. Die Anderen sind schwach, nicht in der Lage, sich dem Trieb zu widersetzen, die Sinne einer Schönheit zu öffnen, die tiefer liegt. Übertrieben schrill und billig hallt das Gelächter meiner Schwestern über das Wasser, Heiterkeit, ebenso gespielt wie das Draufgängertum, das meine Brüder durch derbes Verhalten an den Tag zu legen versuchen. Dennoch spüre auch ich ihn, den Zauber, der in diesem Tag schläft, wie ein Nachtjäger auf die Dämmerung lauert. Etwas kündigt sich an, eine Wendung, die mit dem Sommer zieht. Seine Blicke begegnen mir zu häufig, um Zufall zu sein. Wie ich ragt er aus der Menge,eine Lilie unter den Dornen, eine verwandte Seele. In den verlorenen Stunden der Ruhe kreisen meine Gedanken um ihn, schützen mich vor der Kälte und sind Halt im Mahlstrom der Einsamkeit. Ich spüre seine Gedanken, sehe seinen Blick für die Schönheit des Geistes. Sein Mund ist geschaffen, um zu schweigen, sobald es ihm an Inhalten mangelt. Ich träumte mich an seine Seite, sah uns die Welt erkunden und dabei einander entdecken. Nach und nach, eine zarte Annäherung, die keine schnöde Zurschaustellung impliziert. Alles was es brauchte, war Zeit und die naht nun, das spüre ich.


Die Nacht lässt ihren Zauber frei ohne an Hitze zu verlieren. Man findet einander, die Begierde ist nicht mehr von koketter Verschämtheit, sondern so aufrichtig, dass es schmerzt. Ich suche ihn inmitten der Massen, zwänge mich durch ein Meer aus enthemmten Körpern. Liebe treibt mich, noch mehr aber Angst und ich finde ihn, kurz bevor sie mein Herz zerreißt. Er wirkt ruhig, aber seine glänzenden Augen verraten ihn. Die Stunde macht uns zu Tänzern auf dem Mondlicht. Ich höre das flirrende Gelächter meiner Schwestern aus meiner eigenen Kehle, spüre den Trieb, heiß und pochend. Die Tiefe schwindet und die Gedanken verlassen meinen Mund als billiges Stöhnen. Ich lehne meinen Kopf an seine Schulter, mein Ohr an seine Lippen. Seine geflüsterten Worte zerstören heiser jede Hoffnung. Wir sind nicht mehr als Blut in Wallung und ich möchte weinen um die verlorene Nacht, das kurze Leben und den Tod des Geistes, als mir bewusst wird, dass ich nicht einmal Tränendrüsen besitze.

Wie hässlich Träume nackt sind... 





Sonntag, 24. November 2013

Regen übers Land










November war die Zeit der Südflüge. Wer den Anschluss verpasst hat, bleibt allein in der Kälte. Rilke flüstert von zu bauenden Häusern, aber nun ist es zu spät. Denn hier ist das Land, die Stagnation. Im Winter rückt die Natur näher, zeigt sich grausam und schonungslos, treibt uns mit den Spinnen in die Häuser. Schöne weiße Häuser mit hohen düsteren Toren. Wir kehren davor, denn es soll perfekt sein. Das neue Jahr liegt nicht länger in lauernder Wartehaltung, sondern hat bereits zum Sprung angesetzt und so lächeln wir einander Wünsche zu. Es könnte das letzte Mal sein, dass man so jung zusammen kommt.
Tatsächlich wünschen wir einander die Pest an den Hals, hinter zugezogenen Vorhängen gärt es grünlich und ich wünsche mich in unseren Sommer. Ich wünsche mich in deine Stadt, die groß ist, laut, krank und wundervoll. Wünsche mich an deine Hand, in deine Straßen, will mit dir die Orte deiner Kindheit suchen. Wünsche, ein großes, träges Raubtier zu sein, lauernd in deinem Bett, gierig süchtend nach deinem Schweiß.



Konjunktive schneiden wie Messer.
Manche sagen, es gäbe diesen einen Menschen, der für einen geschaffen sei und den man nie wieder los lassen solle. Helle Tigeraugen und warme Hände und unzählige Geheimnisse später entgleitet er mir. Ich bin ein Winterwolf, dem man das Fell abgezogen hat, der es sich dumm lächelnd abziehen ließ und nun darum weint. Nackt und zitternd verkrieche ich mich unter den Dachbalken, wo Dunkleres lauert als Einsamkeit.
Weil ich sie Freunde nennen, können sie mich nicht dort lassen. Sie zerren mich gewaltsam nach draußen, an grelle Orte. Hier gibt es keine Verbote. Es gibt Bier, Gin laute Worte und Gelegenheiten, bitter wie Tollkirsche. Dann und wann trifft eine Faust auf Knochen oder weiche, nachgiebige Stellen, ab und an blitzt ein Messer und wenn sich der Himmel färbt, findet sich ein finsterer Begleiter. Aber das muss reichen. So ist das Land.
Anstatt mich mit dir, an dir zu wärmen, durchstreife ich die kahlen Felder und vergrabe unsere ungeborenen Kinder unter den Wurzeln nackter Kirschbäume. Ich vergrabe sie tief, weil die Krähen lauern. Trampele die Erde über den Gräbern fest, weil er kommen könnte, so unwahrscheinlich es scheint in diesen Tagen, er könnte wieder kommen um sie auszugraben, der Frühling.

Dienstag, 12. November 2013

Der Steinmetz

 
 
 
 
Die Tropfen hatten schnell gewirkt und sie schlief fest...
..., als er sie bäuchlings auf die Werkbank legte. Bevor er mit der Arbeit begann, nahm sich der Steinmetz eine Minute Zeit, sie in ihrer ganzen Unzulänglichkeit zu betrachten, um später den Nachher-Effekt noch mehr genießen zu können. Dann besah er das bereit gelegte Werkzeug und entschied sich nach kurzer Überlegung für das Spitzeisen. Er hatte beschlossen, an einer einfachen Stelle zu beginnen. Vorsichtig strich er ihr Haar nach vorne und begann, ihren Nacken zu bearbeiten.

Schon nach wenigen Schlägen waren die Bissspuren ihrer Affären abgetragen und die Haut jungfräulich glatt. Zufrieden entfernte er die Tätowierung von ihrem rechten Schulterblatt. Zwar hatte sie keine Bedeutung, aber er fand die Stelle vulgär. Ihr Rücken war weiß und eben, nichts zu verbessern. Weiter unten sah es anders aus. Deutlich erkannte er die Fingerabdrücke des Philosophen auf ihrem Hintern. Er konnte sie sich vorstellen, wie sie nebeneinander lagen und seine Hände über die weichen Rundungen wanderten, während er stundenlang seine Gedanken vor ihr ausbreitete. Wütend über die Vorstellung, schlug der Steinmetz fester zu, als beabsichtigt. Die Fingerabdrücke waren verschwunden, dafür war ihr Hintern jetzt etwas zu flach. Nun, sie trieb Sport, sie würde das mit der Zeit ausgleichen können. Die Tätowierung an ihrer Wade war ihm schon lange ein Dorn im Auge. Das Monster sollte für Stärke stehen, das Erheben aus der Asche. Lächerlich. Sie würde ihren Phönixmoment haben, wenn sie sich später im Spiegel besah. Er gab sich Mühe, nicht allzu viel abzuschlagen, aber als er sie später auf den Rücken drehte, bemerkte er, dass die rechte Wade nun deutlich kräftiger war, also entfernte er dort auch ein wenig Masse. Ebenso an den Oberschenkeln, um die entstandene Disproportionalität auszugleichen. Nun war ihr Unterkörper nach seinen Wünschen gestaltet und er wandte sich dem Torso zu. Die Rollen an ihrer Hüfte waren etwa einen Finger dick. Relikte aus der häuslichen, stagnierenden Beziehung mit dem Schnicker, deren Leere sie mit Essen zu füllen versucht hatte. Nachdem er sie bearbeitet hatte, waren ihre Kurven wieder perfekt. An ihren Brüsten hatte er prinzipiell nichts auszusetzen, aber sie ging auf die Dreißig zu und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Schwerkraft hier wirken würde. Er reduzierte sie, bis nach seinem Maßstab je eine handvoll übrig blieb. Das würde ausreichen und weniger schnell schlaff werden. Kurz überlegte er, einen Teil ihres Bizeps abzutrennen, um sie etwas weiblicher wirken zu lassen, dann entschied er sich aber dagegen, weil er sonst ihre Schultern hätte angleichen müssen und das war eine komplizierte Arbeit. Stattdessen entfernte er mit einem gezielten Schlag die Kneipenschlägernarbe von ihrer Oberlippe. Überhaupt war das Gesicht verbesserungsbedürftig. Der Steinmetz glich die Lachfalten aus. Zeugnisse sinnfreier Saufabende mit ihren Proletenfreunden. Zu gerne hätte er die arrogante Nasenspitze etwas abgeflacht, aber dann hätte die Nase zu breit gewirkt und sein Bedürfnis nach Perfektion verbot ihm das. Ihr linkes Auge war etwas kleiner als das rechte. Es war Präzisionsarbeit und bedurfte nur eines hauchzarten Schlages, einen Teil des Lids zu entfernen, so dass nun auch in ihrem Gesicht wieder Gleichgewicht herrschte. Als letztes wandte er sich dem schwierigsten Teil zu. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihre Stirn gegraben. Er wusste, wie sehr sie um den Schwächling gekämpft hatte, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet, hatte er nächtelang wach gelegen und sein Schicksal beweint. Es hatte nichts genutzt. Der Schwächling war weit weg, eingesperrt wo er niemandem Schaden zufügen oder sie mit seinen Problemen behelligen würde. Höchste Zeit, seine letzten Spuren zu tilgen. Schweiß tropfte von seiner auf ihre Stirn und seine Augen brannten vom konzentrierten Starren, aber irgendwann war er fertig. Kurz bewunderte er sein vor der Vollendung stehendes Werk, dann warf er die Flex an, um ihr buchstäblich den letzten Schliff zu verleihen. Fertig. Ehrfürchtig staunend betrachtete er sie, bis er spürte, wie geil er davon wurde. Nur kurz zögerte er, bis er sich eine Rechtfertigung zurecht gelegt hatte und erleichtert zwischen ihre gespreizten Beine glitt. Trotz ihrer fehlenden Aktivität kam er schnell und heftig, den Kopf zwischen ihren verbesserten Brüsten gebettet. Dann wischte er sie und sich selbst mit seinem verschwitzten Hemd ab und verließ die Werkstatt, um das Abendessen vorzubereiten. Später, wenn sie wach war, würde er sie nach allen Regeln der Kunst verführen, wie er es seit einem Monat allabendlich tat. Nur würde es heute noch besser sein. Nicht nur besser. Perfekt.

Zwei Stunden hatte er gerechnet und als er nach Ablauf dieser Frist zurück in die Werkstatt kam, hatte sie ihre Position zwar nicht verändert, aber ihre nun gleich großen Augen waren offen. Sie reagierte nicht, als er sie ansprach, also richtete er sie auf und tatsächlich blieb sie sitzen. Mehr allerdings auch nicht. Etwas ratlos wedelte er seine Hand vor ihren Augen hin und her, täuschte Fausthiebe an. Kein Blinzeln, kein Zucken, Nichts. Der Steinmetz hob ihren linken Arm und beobachtet resigniert, wie dieser in der Stellung verharrte, als er ihn los ließ. Seufzend hob er sie auf und trug sie nach draußen in den Garten. Wenngleich er wenig Hoffnung hatte, gab es doch die Möglichkeit, dass die warme Spätsommerluft ihr wieder etwas Leben einhauchen würde. Keine Reaktion. Er bog ihre Wirbelsäule durch und richtete sie auf. Er wünschte, sie hätte langes Haar gehabt. So blieb ihm nichts anderes übrig, als ihren Arm nach innen zu biegen und ihre Hand züchtig vor ihren Schritt zu legen. Den rechten Arm winkelte er an, spreizte ihre Finger und schob sie in ihr Haar. Den Kopf knickte er ein wenig nach hinten und bog den Rücken stärker durch. Fast wäre sie umgefallen, deswegen brachte er ihre Beine in eine Ausfallschrittstellung. Die Pose war gleichzeitig schüchtern und herausfordernd, kokett, aber nicht zu offensiv. Sie hätte ihr gefallen. Kurz überlegte der Steinmetz, ihr einen besonderen Platz zu geben. Unter dem Kirschbaum vielleicht, oder auf dem Stück Wiese mit den Wildblumen, aber dann fand er, dass sie doch recht gewöhnlich gewesen war und stellte sie zu den anderen vor die Buxbaumhecke.

Donnerstag, 31. Oktober 2013

Ginga





Ein Schritt vor, aber von jetzt an nicht mehr zurück. Wir waren lange genug schleichende Katzen, lass uns brüllende Bestien sein. Kein Gleichgewicht mehr und kein Ausweichen. Angriff. Keine Angst, komm näher und lerne. Ich bin da und ich unterliege gern. Lass mich für dich tanzen, den Kopf im Nacken, Feuer in den Hüften und uralten Rhythmus im Kopf. Sei ein Raubtier, denn ich schenke nichts, ich kann nur nehmen. Atme mit mir und halte Schritt, sei schneller, stärker, besser. Narben, deine, meine und natürlich ist ihr Name Legion, aber heute Nacht ist die Zeit, frische Wunden zu schlagen, verbeiß’ dich in meine Seele, stoß’ mir ins Herz. Passo-a-Dois. Nie zurück blicken und um Himmels willen nicht nach vorne. Ich bin jetzt, ich bin hier, eine tanzende Seele unter deiner Zunge. Nicht zittern, ich tu dir nicht weh, es sei denn, du bettelst darum und das wäre schön, denn diese Sehne an deinem Hals fühlt sich gut an zwischen meinen Zähnen. Rotes Leben auf meinen Lippen und ich blute aus unzähligen Wunden. Der Klang eines wachsenden Kristalls, der Rhythmus der Atabaque wird schneller und überrennt den Herzschlag. Das Feuer-

Mittwoch, 9. Oktober 2013

Kornmuhmenblau





Noch waren die Tage lang. Der Mais war so golden, dass die Kinder gar nicht anders konnten, als hinein zu laufen. Hindurch, tiefer zwischen die Pflanzen, die sie so angenehm überragten. Es war ein albernes Spiel und sie spielten es immer, wenn ihnen nichts besseres einfiel, aber es verlor nie seinen Reiz. Das Herzklopfen, wenn sie, ein jeder für sich allein, durch die Reihen gingen, neben ihnen ein Rascheln, das alles Mögliche sein konnte. Die Nervosität, die durch ihre Körper wanderte, eine Mischung aus der Furcht, vom Bauern entdeckt zu werden und irrationaler, Angst. Schließlich die wilde, köstliche Panik, wenn sie sich umwandten und in kichernder Hysterie aus dem Mais jagten.

Der Junge lässt sich in der Mitte des Sees auf dem Rücken treiben. Sein Name ist Finn, aber er wird so selten gerufen, dass er ihm fremd scheint. Er nutzt ruhige Momente wie diesen, um ihn vor sich hin zu flüstern. Finn. Finn. Er wirkt entspannt, ist aber wachsam, immer wieder gleitet sein Blick am Ufer entlang, bis er auf das Gesicht des Wanderers trifft. Ein entwarnendes Lächeln liegt darin, keine Gefahr in Sicht und der Junge verwandelt sich in planschende Arme, prustendes Lachen und strahlende Augen. Bevor ihn die Szene berühren kann, holt der Wanderer Spiegel und Rasiermesser aus seinem Rucksack. Achtsam schabt er den sandfarbenen Bart von seiner Haut und legt unerwartete Unschuld frei. Vor Kurzem ist er zwanzig Jahre alt geworden, ohne es zu bemerken. Er hat seinen Geburtstag vergessen, wie er so Vieles vergessen hat, was ihm in den langen Tagen wichtig war.

Als die Kinder durch das Getreide tobten, öffnete etwas, das tief im Inneren des Feldes schlief, ein blutunterlaufenes Auge. Die Haut seines eingefallenen Gesichts glänzte blauschwarz, als es den Kopf hob und in die Luft des Sommertages witterte. Fleisch, zart, jung und verlockend süß, aber der Wind befahl Geduld. Er flüsterte von Kommenden und was er versprach, gefiel. Der letzte Morgen würde allzu bald dämmern und in der ewigen Nacht würde es sich erheben, um wieder zwischen den Reihen zu gehen. Dieses Mal vielleicht sogar dahinter.

Im See ist es ruhig geworden und der Wanderer blickt auf. Der Junge steht nicht weit weg, ganz still
im knietiefen Wasser und starrt konzentriert nach unten. Noch haben sie ausreichend Vorräte und sind nicht auf den Fisch angewiesen. Der Wanderer hat Finn gelehrt, wie man mit bloßen Händen fischt und jagt, wie man Fallen stellt und essbare Pflanzen von giftigen unterschiedet. Auch das Schwimmen hat er ihm beigebracht, überrascht vom Anblick des Jungen, der ihm hundegleich paddelnd und verzweifelt nach Luft schnappend folgte, als sie erstmals gemeinsam einen Fluss durchquerten. Er hat ihn gelehrt, in der Wildnis zu überleben und noch während er das denkt, schiebt sich dem Wanderer das Bild des Generals vor Augen, spürt er den Lufthauch des Gürtels neben dem Ohr und den rauen Teppich unter den Knien. Ich bin nicht so, versichert er dem Schatten der Bäume und zwingt seine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart.

Im Maisfeld starb die Frau schon viel zu lange. Ihr Gesicht war bereits blau, aber ihre Stimme laut und klar, als sie dem Wanderer so viele Geheimnisse zurief, dass er näher kam. Sein Mund war schmal und hart wie seine Augen, aber der Frau zerrann mit ihren Gedärmen die Zeit und so oder so hätte sie keine Wahl gehabt. Der Flüssigkeitsverlust hatte ihre Lippen zurück gezogen und als sie den Fremden anbettelte, beschwor und bestach, lag ein wölfisches Grinsen auf ihren Lippen.

Jetzt reißt der Junge die Arme aus dem Wasser, einen zappelnden Fisch in den Händen, legt den Kopf in den Nacken und stößt einen leisen, aber triumphierenden Schrei aus. Als er aus dem Wasser steigt, präsentiert er dem Wanderer seinen Fang. Eine glänzend bronzefarbene Brasse, die noch nicht versteht, wie ihr geschieht und ebenso panisch wie vergeblich um Atem ringt. Der Junge schlägt den Kopf des Tiers auf einen Stein, bis es aufhört zu zappeln. Ein Teil des Lächelns ist aus seinem Gesicht gewichen und ein weiterer folgt, als der Wanderer ihm das Messer reicht. Finn nickt ergeben und seine Hände zittern nicht, als er sich über den Fisch beugt.

Als sich der Himmel rot färbte und Feuer erbrach, besannen sich die Menschen ihrer letzten Gottheit. Im Feld erhob sich die Kornmuhme und breitete die Arme aus für all jene Kinder, die nun taumelnd, schleppend und zuletzt kriechend in den Feldern Zuflucht suchten. Sie erinnerten sich ihrer elementarsten Gebete und flüsterten sie, baten um Rettung, Vergebung und am Ende, als ihnen die enorme Hitze das Fleisch von den Lippen sengte, nur noch um Erlösung. Die Kornmuhme zehrte von ihrem Schmerz, ballte die erstarkende Faust und flüsterte Flüche in den Wind, auf dass er sie zu jenen trug, die noch glaubten.

Finn sieht aus, als hätte der Fisch ihn ausgenommen und nicht umgekehrt. Rot tropft es von seinen Händen, vermischt sich auf den Unterarmen mit Wasser und läuft ihm als blassrosa Rinnsal über die Beine. Er geht einige Schritte in den See hinein, um sich zu reinigen und kehrt dann an seinen Posten zurück. Sie haben die Rollen getauscht und nun ist er es, der am Ufer Wache hält, während der Wanderer seine Bahnen zieht. Schnell und gerade kraftvoll genug, um die Anstrengung in den Gliedern zu spüren, ohne sich dabei zu verausgaben. Wie er selbst kreisen auch seine Gedanken.
Er denkt an die Amsel, die er gefunden hatte, als die Tage noch lang und sein Name Maxim war. Ob sie das Opfer einer Katze geworden oder gegen eine Scheibe geflogen war, wusste er nicht, als er das Tier von der Straße hob und nach Hause trug, um es seiner Mutter zu zeigen. Der Kopf des Vogels war seltsam abgeknickt und als Maxim ihn auf den Küchentisch legte, begann er mit einem Flügel zu schlagen. Der andere bewegte sich nicht, sodass die Amsel hektisch auf dem Tisch rotierte und der kleine Schnabel öffnete und schloss sich, ohne dass ein Laut heraus drang. Maxims Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn aus dem Zimmer geschickt, aber er hatte dabei sein wollen. Er erinnerte sich an das glänzend schwarze Gefieder im Nacken des Tieres, kurz bevor sich die Finger seiner Mutter darum legten, sich leicht und schnell drehten und das Genick der Amsel brachen. Als sie den Vogel gemeinsam begruben, weinte er und die Mutter erklärte ihm, dass sie der Amsel großes Leid und viele Schmerzen erspart hatten. Sie strich ihm durchs Haar und flüsterte, dass es so besser sei.

Dem Feuerregen folgten Finsternis und Kälte und die Saat lag brach im ewigen Winter. Ihres Reiches beraubt durchstreifte die Kornmuhme die Nacht und fand eine neue Heimat in den Träumen der letzten Menschen. Sie ist es, die schwarzlippig in die Dunkelheit flüstert. "Komm zu mir, nur ein Weilchen, mein Kind. Leg' deinen schweren Kopf in meinen Schoß und schlaf'. Bleib' solange du willst, eine Stunde, einen Tag oder für die Ewigkeit. Letztlich ist es egal, denn du weißt, dass es so besser ist"

Der Wanderer holt tief Luft und durchquert die Hälfte des Sees tauchend. Als er aus dem Wasser steigt, hat der Junge bereits ein Feuer entzündet. In einer niedrigen Grube, wie der Wanderer es ihm beigebracht hat. Sein Lob lässt Finns Augen strahlen und Maxim erwidert das Lächeln des Jungen, bemüht, nicht auf dessen Hals zu blicken, auf dem das feuchte Haar schwarz glänzend und allzu vertraut klebt.

Freitag, 27. September 2013

Gratwanderer 4






Ich könnte diese Gänge schlafend durchqueren, denn sie beherbergen meine Träume. Hier laufen alle Linien zusammen und treffen einander in der Unausweichlichkeit. Finsternis an beiden Enden und ich entscheide mich für die kalte Variante. Judith steht vor der Eingangstür und raucht. Alles an ihr ist klar, ihre dunklen Augen, ihre Züge, ihre Worte. Sie hat den üblichen Panzer abgelegt, ihre Stimme ist leise und bittend, aber jetzt bin ich taub für Erklärungen. Als sie die Hand an meine Wange hebt, weiche ich ihr aus. Viele Jahre lang haben wir Rücken an Rücken gekämpft, aber in dieser Nacht bin ich wieder zehn Jahre alt und Judith meine erbitterte Feindin. Mühsam löse ich meinen Blick von ihrem schmalen Hals, meine Gedanken von der Idee, sie zu packen und ihren Kopf solange gegen die Wand zu schlagen, bis die klare dunkle Stimme verstummt. Stattdessen murmele ich einsichtig Klingendes und verschwinde.

Es ist kälter als erwartet und Menschen, die zu dumm oder zu betrunken sind, die Uhr zu lesen, schicken erste Raketen in den mondlosen Himmel. Kurz bin ich geneigt, nach Hause zu fahren, aber trotz meiner Wut wiegt das Versprechen, das ich Lex gegeben habe, schwer. Heute Nacht nicht allein zu sein. Allein kann zu zweit bedeuten, jedoch niemals zu dritt.

Als ich im vierten Stock ankomme, ist die Kälte auf meiner Haut einem unangenehmen Kribbeln gewichen. Die Tür ist nur angelehnt und als ich sie öffne, schlägt mir der Lärm ebenso entgegen wie der Geruch nach schlechtem Essen und zu vielen Menschen. Mir geht auf, dass das keine gute Idee war und ich verschwinden sollte, aber der Flur ist voller Menschen, manche Gesichter vage bekannt und eine Frau kommt auf mich zu, umarmt mich und zieht mich hinein.

Der Versuch, mich zulaufen zu lassen ohne dabei ernsthaft Konversation betreiben zu müssen, erweist sich als schwierig. Weit mehr Menschen, als ich hier zu kennen glaubte, scheinen informiert und fühlen sich verpflichtet, nachzufragen, was mein Bruder macht. Es dauert etwa eine Stunde, bis ich heraus habe, dass die Antwort „Sterben.“ das Gegenüber nicht nur zum Schweigen bringt, sondern mich auch für den restlichen Abend, wenn es gut läuft vielleicht sogar für mein restliches Leben, als Gesprächspartner disqualifiziert. Im Flur suchen sie Mitspieler für eine Runde Flunkyball und ich schließe mich an. Es gibt Schlimmeres, als Saufspiele und Albernheit. Es gibt Gespräche.

Die Nachtluft ist schneidend kalt, aber nicht erfrischend. Sie ist bereits trüb und stinkt nach Schwarzpulver, obwohl bis Mitternacht noch Zeit ist. Um mich herum positionieren sie leere Weinflaschen, jemand will mir eine Rakete in die Hand drücken, aber ich lehne ab. Ich mag kein Feuerwerk. Es liegt nicht an der traditionell verurteilten Verschwendung oder der moderner beklagten Feinstaubfreisetzung, sondern an dem Knallen. Arrhythmisch und dumpf, weit ab vom Herzschlag und auf unangenehme Weise aufputschend. Die andere Sache die mich an Silvester stört ist die um sich greifende Traurigkeit. Pathetisch, nostalgisch und vor allem eitel, der eigenen Vergänglichkeit bewusst werdend, gleicht sie der Melancholie an Geburtstagen, nur dass sie zum Jahreswechsel bei unzähligen Menschen gleichzeitig auftritt. Auch ich bin nicht in der Lage, mich dem zu entziehen, wobei meine eigene Sterblichkeit eher eine untergeordnete Rolle spielt. Ob sie am Fenster sitzend auf das große Geballer warten? Als wir noch Kinder waren und ich mich, von den Silvesterpartys unserer Eltern flüchtend, überwältigt von Licht und Lärm unter meinem Bett verkroch, war es Lex, der mich fand und dann das Feuerwerk mit mir zusammen ansah. Vielleicht verpassen sie es aber auch und schlafen Bereits. Lex müde von der Chemie, die in seinem Körper zirkuliert, Judith von der Erschöpfung der letzten Wochen, Beide erschlagen von der hilflosen Traurigkeit die das Wort „letzte“ nun jeder Situation aufzwingt.

Ihr Name ist Lana und sie möchte, dass ich ihre Hand halte, während sie auf der Brüstung der Ufermauer balanciert. An ihrer linken Seite geht es gute fünfzehn Meter nach unten, wo ein schmaler Betonweg am Wasser entlang führt. Als man herunter gezählt hatte und die Welt ihren Abschiedsschmerz gegen ekstatische Freude über den Neubeginn tauschte, stand sie plötzlich vor mir und küsste mich. Silvesterfrauen bringen Unglück. Silvester brachte mir Talla, Talla brachte mir Nils und Nils brachte mir eine Wunde bei, die noch immer schmerzt. Ich sollte entweder gehen oder sie gleich selbst hinunter stürzen, aber der Gedanke, dass man bei der Obduktion ihrer zerschmetterten Leiche meinen Speichel auf ihren Lippen finden könnte, behagt mir nicht. Lana balanciert, hüpft und plappert vor sich hin. Am Ende der Brüstung bleibt sie stehen und verharrt in einer wackeligen Turnerpose, bis ich einen Applaus andeute. Dann hakt sie sich bei mir ein. Sie ist groß und dünn und hält den Kopf so, dass ihre Schlüsselbeine auffällig hervor treten. Als sie bemerkt, dass ich sie mustere, zieht sie die Schultern nach oben und reibt ihre Hände aneinander. Sie flüstert etwas von Gentleman, aber das bin ich nicht.

Während Lana Wein aus der Küche holt, betrachte ich ihr Zimmer. Photos in selbst gebastelten Rahmen, Kerzen, eine große Teetasse mit Marienkäfermotiv. Ein Kleiderhaufen, gerade groß genug, um das putzige Chaos im Inneren seiner Verursacherin zu spiegeln. Dazwischen mehr Blumiges, Fruchtiges, Gestreiftes. Lana trinkt kaum, stattdessen spielen ihre schmalen Finger mit dem Glas. Ich würde ihre Verletzlichkeit ansprechen und sie ihr herunter reißen um die verborgene Stärke zu entdecken, ganz so wie sie es möchte. Aber ich würde weiter gehen, ihre zweite und dritte Haut abschälen und sie dann vor den großen, weißgerahmnten Spiegel zerren, bis sie sich selbst in ihrer ganzen kindischen Eitelkeit und Schwäche gegenüber steht. Letztlich fehlt mir die Energie und nicht auf ihre Selbstinszenierung einzugehen, verschafft mir ein Stück weit Befriedigung. Ich entschuldige mich und verschwinde im Badezimmer. Über der Toilette hängt ein Poster mit der Aufschrift „Tritt näher heran, er ist kürzer, als du denkst!“. Ich folge der Aufforderung und pinkele gegen den Klodeckel, bis sich die Bodenmatte voll gesaugt hat. Meine Jacke hängt im Flur und ich streife sie ebenso leise über, wie ich die Wohnungstür schließe.

Noch immer liegt der Pulvergeruch in der Luft und die fahle Wintersonne beleuchtet verdreckte, dunstige Straßen. Judith steht an der gleichen Stelle wie gestern Nacht und dieses Mal lasse ich ihre Berührung zu. Nur noch ein paar Tage. 


Donnerstag, 29. August 2013

Horizonte






Die Begegnung von Meer und Land ist nicht sanft. Ein wütender Gewaltakt, reißend und ohne Sieger. Wehe dem, der dazwischen gerät. Die aufgerissene Stelle an meinem Fuß blutet nicht lang, das Salzwasser brennt und heilt. Heilt es, wenn es brennt? Über die Jahre hinweg habe ich Psychosen und Neurosen gesammelt, wie andere Tätowierungen. Heute kontrolliere ich all die Ungeheuer und trotzdem nagen sie an unserer Substanz. Ich bin die Brandung.
Vor mir breitet sich das Land aus, keine Erhebung bietet den Gedanken Halt. Der Alltag bleibt gern auf der Strecke an Orten wie diesem. Besoffen von Nonchalance und Glück, taumeln wir umeinander. Unbemerkt nimmt das Leben Fahrt auf, überholt rechts und bremst uns gnadenlos aus.
Was wie im Winterschlaf ruhte, nur ab und an seine hässliche Schnauze ins Licht streckte, erwacht ausgerechnet hier und in dir statt mir. Morgens legt es sich schwer auf deine Brust, nachts wühlt es in deinen Gedanken, beansprucht Raum und Zeit. Ein paar Tage lang geben wir uns noch der Illusion hin, es kontrollieren zu können, indem wir ihm Namen geben, aber das Scheitern ist nur eine Frage der Zeit. Statt ineinander verlieren wir uns in Alltäglichem. Wir frühstücken Träume und verdauen Bedürfnisse. Die Hoffnung fällt der Inflation zum Opfer. So bleibt das Starren, enttäuschend wie die zweite Zigarette. In die Weite starren, weil wir so nackt nebeneinander stehen wie Adam und Lilith und gekreuzte Blicke irreparable Schäden verursachen würden. Nicht allein der Wind schmeckt salzig.
Versteh mich richtig, ich würde für dich durch die Hölle gehen und gleich noch die Abyss mitnehmen. Aufrecht, lächelnd und mit ausgestreckten Mittelfingern. Aber dich dabei zu beobachten, bringt mich um.

Der Sommer ändert sein Gesicht, schickt Blitze über schwefelgelbe Himmel und zwingt uns nachts unter Decken. Es ist keine Entscheidung, die fällt, vielmehr kriecht sie. Dein flüchtiges Lächeln gewinnt in der Waagschale an Gewicht. Unsere Blicke begegnen sich ehrfürchtig und vertraut. Die Verwundbarkeit verliert ihre Schrecken, offenbart Chancen und erstmals spürt auch dein Ungeheuer den festen Griff meiner Hand an der Kehle.
Langsam, fast zärtlich streicht das Meer über den Strand. Die Narbe an meinem Fuß verblasst. Es brennt, wenn es heilt. Über die Jahre hinweg habe ich Erfahrungen gesammelt und doch erbärmlich wenig gelernt. Es gibt Ungeheuer, die den Lack von einer Beziehung kratzen, aber die Substanz stärken. Manchmal bin ich der Fels.




Dienstag, 27. August 2013

Ode an die Ode







Poesie, sitz einmal still 
 Weil ich dir etwas sagen will
Erweisen eine simple Gunst
Dir, der einen, bösen Kunst

Ich schreibe es dir als Gedicht:
Poesie ich mag dich nicht
Gern knie ich vor Prosa nieder
Doch du, du bist mir sehr zuwider

Als Kind fand ich dich noch grandios
Liebte Josef Guggenmos
Und “Oh Minnie, Minnie, Mai”
Diese Handklatschspielerei

Unsre ersten Schwierigkeiten
Dann zu Mittelstufenzeiten
Bot dir mutig noch die Stirn
Schlug “die Bürgschaft” in mein Hirn

Doch dann war er aus der Traum
“Da kommt unser Johnny und will seinen Baum”
War mir einfach viel zu blöde
Drum verließ ich dich ganz schnöde

When shall we two meet again?
Never Baby, it’s in vain
Change the language for today
I still hate you, anyway

Und es wurde nicht mehr besser
Im Grundkurs wetzte ich mein Messer
Tot des Dichters Intention
Durch Fehlinterpretation

Viribus infirmior
Nur deshalb dringst du in mein Ohr
Miststück, hör' mein Manifest
Odio inflammatum est

Metapher, Alliteration
Meine Hände zittern schon
Pars pro Toto, Euphemismus
Poesie gleicht Terrorismus

Jambus, Distichon Zäsur
Blutig rot ist meine Spur
Dichterischer Urinstinkt
Kotzen, weil das Versmaß hinkt

Ecoute bien, poésie bohème
Il y a un petit problème
Moi le citron et toi le ceste?
Poésie, je te déteste

Doch halt, ist da nicht dieser Herr
Mit dem Namen Baudelaire?
Dessen trübe, dunkelschwere
Zeilen ich so sehr verehre?
Hilft aus Depressionsgefahr
Nicht Jandlstottern, wunderbar?
Versteht, wenn ich aus Liebe leide
Nicht Walther von der Vogelweide?
Wie konnte ich mich so belügen?
Dir grausam diesen Schmerz zufügen?
Verzeihst du, wenn nach alter Sitte
Ich winselnd um Vergebung bitte?
Dichtkunst, Liebste, hörst du mich?
Oh, wie schrecklich blind war ich
Trotz all der Jahre, immer noch
Poesie, ich lieb’ dich doch.

Dienstag, 20. August 2013

Generation 3 (II)

 Geschätzter Leser,
 Hier folgt die Fortsetzung eines anderen Textes, der unter meinem gestrengen Blick mehrmals den Titel ändern musste. Ich tue mir mit der Titelfindung schwer, manchmal dauert selbige länger, als das eigentliche Schreiben. Ganz zufrieden bin ich mit dem Titel noch immer nicht und da der Geschichte eine weitere Fortsetzung folgen wird, freue ich mich über Vorschläge. Falls also Du, liebster Leser, eine Idee hast, scheue Dich nicht, sie mir mitzuteilen, sei es per Mail oder Kommentar.  







Die Nonnen beäugten Gabriel und mich amüsiert, verwundert ob der Tatsache, dass ein so niedliches Kind ausgerechnet meine Nähe suchte. Sie schoben es darauf, dass wir am selben Tag im Heim eintrafen und uns lieber aneinander hielten, als zu versuchen, einen Platz in einer der Gruppen zu finden. Bis heute lässt es mich nicht los, dass diese Frauen, die sich bis zur Selbstaufgabe der Spiritualität verschrieben hatten, so blind sein konnten, wenn sie ihnen begegnete. Gabriels Seele wanderte neben meiner durch die Finsternis und wir hatten einander gekannt, noch bevor ich ihm begegnete.

Sie lacht, als wäre ihr das eben gezeigte Pathos unangenehm, aber ihre Augen bleiben ernst. Er hat aufgehört, sich Notizen zu machen. Zuviel entgeht ihm, wenn er den Blick von ihrem Gesicht nimmt. Man hat ihn davor gewarnt, sich von ihrem träumerischen Tonfall und dem unscheinbaren Äußeren täuschen zu lassen.

Geheimnisse waren von Anfang an wichtig. In einer Umgebung, die kaum Privatsphäre ließ und das Alleinsein zu einem Luxusgut erhob, waren es zuerst Orte. Die Abstellkammer. Ein Loch in der Hecke oder der Platz hinter der Spülküche, wo die Mülltonnen standen. Martha fand sie schnell, denn obgleich die Nonnen überall zu sein schienen, war selten jemand zur Stelle, wenn die anderen Kinder ihre Lust an der Grausamkeit auslebten. Gabriel hingegen war nicht auf der Suche nach einer Zuflucht. In der Nacht der Glühwürmchen hatte er gelernt, seinen Geist auf Wanderschaft zu schicken, wenn ihm danach war, aber ihn trieben andere Geheimnisse. Ein Messer, das – während des Spüldienstes gestohlen und mit einem Stein geschärft – ausprobiert sein wollte. Er hatte es bereits einige Male in die Rinde eines Baums getrieben, als er bemerkte, dass er nicht allein war.

Jenen ersten Nachmittag verbrachten wir schweigend. Es dauerte, bis wir Worte fanden und in der Lage waren, sie aneinander zu richten.

Er steht auf, murmelt eine Entschuldigung und verschwindet in der Toilette. Es braucht mehrere Ladungen kaltes Wasser, bis die Erschöpfung schwindet. Als er zurückkommt, hält sie wieder die Bilder in den Händen, aber ihr Blick ist auf ihn gerichtet. Sie macht ein Kompliment über seine Augen, aber wenngleich er zu Beginn des Gesprächs gehofft hat, dass sie ihr auffallen würden, spürt er nun Beklemmung.

Als sie einmal zu reden begonnen hatten, hörten sie nicht mehr auf. Ihre Stimmen, ruhig und betont, glichen denen der Nonnen, wenn sie den Kindern im Gemeinschaftssaal Märchen vorlasen. Auch die Gestalten besaßen grimmsche Züge, aber ihre Gemüter waren dunkler und ihre Taten grausamer. Die Hexe mästete mit Hass, der Spiegel verspottete Schneewittchen und die Prinzen trugen blutbeschmierte Messer. Martha und Gabriel teilten Entsetzen, sie wuchsen dort zusammen, wo ihre Seelen gerissen waren, zarte Triebe, die in der Finsternis keimten.

Man kann den Nonnen Vieles vorwerfen. Schläge, die Beschimpfungen oder die über allem wabernde, alles entschuldigende Ergebenheit. Vermutlich waren auch sie verängstigte Geschöpfe,die hinter der geschlechtslosen Würde ihrer Tracht und den Mauern der Gottesfürchtigkeit Schutz vor der Welt suchten. Aber, verdammt, sie hätten uns vorbereiten müssen. .

Er kennt die Akten, weiß um ihre weitere Geschichte und dennoch fürchtet er sich davor, sie aus ihrem Mund zu hören. Ihre Augen wandern über sein Gesicht und er weiß, wonach sie sucht und fürchtet, dass sie es finden könnte.

Die Zeit floh und mit ihr der mickrige Rest einer Kindheit. Das neue Heim war größer und moderner. Die Flure rochen nach frischer Farbe, reformierten Konzepten und uralten Abgründen. Gabriel war allein. Seine Angst und Unsicherheit verbarg er hinter offensiven Blicken und derber Sprache. Sie waren zu sechst auf dem Zimmer, aber bereits die zweite Nacht verbrachte Gabriel in der stillen Einsamkeit der Krankenstation. Schmerzmittel betäubten seinen Körper, aber in seinem Kopf loderte blankes Entsetzen. Er konnte keine Hilfe erwarten. Nicht vom Etagenaufseher, der gehört haben musste, was in Raum 217 geschah, der aber erst eingriff, als Gabriel blutüberströmt den Flur entlang kroch.Nicht von der Krankenschwester, die ihn, kalte Routine im Blick, versorgt hatte. Nicht vom Direktor, der ankündigte, Gabriels Zimmergenossen mit Putzdienst zu bestrafen und zwinkernd hinzufügte, dass sie so den ordnungsgemäßen Umgang mit Besen lernen würden. Es gab keinen Halt und Gabriel ließ sich fallen, tiefer und dunkler, bis er blind und beinahe willenlos war und es war Zufall, dass sein Geist den kühlen Griff des Messers streifte und an der glatten Oberfläche Halt fand.

Martha zählte die Tage bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Ohne Gabriel wuchs sich das Alleinsein zur Einsamkeit aus. Ihr Geist benötigte keinen Rückzugsort, vielmehr drängte er nach vorne, reckte sich jeder Hand entgegen, die ein Streicheln verhieß. Als Gabriels erster Brief sie erreichte, trug sie ihn einige Stunden lang in der Hosentasche, um die Vorfreude auszudehnen. Aber Martha züchtete Enttäuschung. Fetzen von Gabriels Handschrift, unzusammenhängend und fremd, zusammengekauert zwischen schwarzen Balken, die nicht mit Spucke oder Seife, nicht einmal mit der Nagelbürste zu entfernen waren. Das Schwarz machte ihr Angst, ein Blick in den Abgrund, bodenlos. Am Ende ein unpersönlicher Gruß und das Post Scriptum, scharf und unerbittlich wie eine Klinge. „Hier sind alle Prinzen.“




Donnerstag, 18. Juli 2013

Gebranntes Kind





Die Zeit hat ihr Vieles genommen, aber nichts vermisst Evka so sehr wie den Schlaf. Vor langer Zeit verliehen dichte schwarze Brauen ihrem Gesicht etwas Wildes, Exotisches. Jetzt heben sie sich kaum mehr von ihrer pilzgrauen Stirn ab. Die Augen darunter fixieren den Wecker nicht. Zum einen fällt es ihnen schwer, zum andern braucht die Alte kein Ziffernblatt, um zu wissen, dass es zwei Uhr ist. Ihre Zeit, egal wann sie sich vorher schlafen gelegt hat. Ihr Körper kennt keine Müdigkeit, nur Schwäche. Bleischwer sind ihre Glieder, nur mit Mühe aus dem Bett zu hieven und trotzdem könnte sie schneller sein, wenn sie wollte. Sie fürchtet den Sturz, den Bruch, die Abhängigkeit. Die Perücke bleibt auf dem Nachttisch zurück, während sie den Lehnstuhl ans Fenster schiebt. Ihr Rücken hat sich der Last seiner Jahre gebeugt und sie muss das Kinn heben, um nach vorne zu sehen. Vor achtzehn Jahren kaufte ihr Sohn Evka einen Fernseher, aber sie benutzt ihn kaum. Sie hat andere Mittel und Wege, die Welt zu sehen. Mit einer Konzentration, die den zitternden, zahnlosen Mund zur Ruhe bringt, lässt sie ihren Blick über das Land streifen. Schnell vorbei an Lidice, das sich wimmernd in ewigen Albträumen windet, nach Westen, zu jenen die sie liebt.

Dort sitzt Antonin in einem Sessel, ein Glas Pinot in der Hand und liest. Blaugrau windet sich der Rauch um ihn, in seine rot geäderten Augen, die unbeirrt über die Seiten wandern. Ihr einziger Sohn und noch immer erstaunt er sie. Evka wuchs in einer Zeit der Tat auf, die Theorie ist ihr fremd. Die Lehren ihres Sohnes begreift sie nicht, findet keinen Zugang zu den Inhalten seiner Bücher, aber die ihnen entgegen gebrachte Aufmerksamkeit, erfüllt sie mit unbändigem Stolz. Schon als Junge las und sinnierte er viel und wie damals zieht sie sich sanft zurück um ihn nicht dabei zu stören.

Die Alte schickt ihren Blick weiter nördlich, wo Nicol lächelnd zu dem Mädchen aufblickt. Ihr jüngster Enkel, in dessen Zügen sie ihren Vater wieder erkennt. Sein entspanntes Gesicht rührt und fasziniert sie so sehr, dass sie lange nicht bemerkt, was für eine intime Szene sich ihr bietet. Erst als die sanften Bewegungen des Mädchens heftiger werden, sinnliche Hingabe sich in derbe Begierde verwandelt, nimmt sie es wahr und vergessene Lust durchzuckt beinah schmerzhaft ihren Unterleib. Erschrocken zieht sie ihren Blick zurück.

Zu schnell, denn sie verliert die Kontrolle über Raum und Zeit, spürt, wie sich ihr Körper strafft und aufrichtet und dann ist sie wieder fünfzehn, Evka, eine bleiche Schönheit mit wiegenden Hüften. Ihre Jugend ist keine Zeit der Individualität und doch ist da dieser tanzende Funke, der sie dazu bringt, verirrten Bubenhänden kräftige Schläge zu versetzen, anstatt kichernd davon zu laufen. „Mein Mädchen“, lacht ihr Vater und zerzaust ihr Haar, wenn ihre Mutter sich wieder über das ungestüme Verhalten der ältesten Tochter beschwert. „Mein Mädchen“, flüstert er, als seine Augen brechen während die Schreie ihrer Mutter die Schüsse übertönen.

Das Tuten des Telefons raubt mir den Schlaf, aber Nicols Gesicht ist ruhig und entspannt. Ich lege den Kopf auf seine Brust und lausche seinem Herzschlag. Um uns versammeln sich die Geister.

Ravensbrück lehrt Evka, den Funken zu unterdrücken, davon zu zehren und es lehrt sie, zu laufen. Laufen, ohne zurück zu sehen, gejagt von glutheißem Wind. Laufen nach Nordwesten, getrieben wie Vieh, schwache Hoffnung im Herzen und Bluthunde im Rücken, Mutter und Schwester sind zu langsam, aber Evka läuft weiter. Niemals stehen bleiben, auch nicht für die Befreier, die schießen, wenn man ihre sehnsüchtigen Hände weg schlägt. Zurück nach Osten, aber Lidice ist Staub. Skelette mit blutenden Händen und tätowierten Seelen bauen einen Ort für die brüllenden Geister und Evka läuft weiter. Hinein in die goldene Stadt, wo das Leben tanzt und Evka ihren gewaltigen Durst danach stillt. Gebranntes Kind.

Antonin öffnet eine neue Flasche Wein und stellt das Buch ins Regal. Eine halbe Stunde lang hat er verständnislos auf die gleiche Seite gestarrt. Seine Gedanken fliehen und er folgt ihnen. Der Drang zum Laufen steckt in ihm. Er fraß sich im Angstschweiß durch die Haut seiner Mutter in seinen Körper, als sie die Koffer packte und den Mann verließ, der ihr den tanzenden Funken austreiben wollte. Sie lehrte Antonin, zu laufen und er lief. Seine Jugend war eine Zeit des Denkens, wild und inspirierend. In seinem Kopf wuchsen sich Ideen zu kostbaren Manifesten aus und Antonin schrie sie in die Welt, während er gegen die Mauern lief. Dagegen, immer wieder, und sie bröckelten schon, als der Frühling in einer heißen Augustnacht blutig endete. Gebrannten Kindes Kind.

Nicol wimmert und ich streiche beruhigend über seine vernarbten Arme. Gehen lassen, denn die Geister rücken näher und retten kann ich ihn nicht. Gebrannten Kindes Kindeskind.

Auch die neue Flasche ist leer. Die Kollegen müssen es bemerkt haben, vielleicht sogar seine Studenten, aber Antonin besitzt einen guten Ruf und solange er seine Arbeit ordentlich verrichtet, wird niemand etwas sagen. Er greift erneut zum Telefon. Es ist Wahnsinn, aber er kann nicht anders. Besetzt, natürlich. Es gab diesen Moment in dem er hätte anhalten müssen, für jemand anderen da sein als sich selbst, aber er lief weiter.

Nicol wuchs in einer ruhigen Zeit auf. Platz für Überfluss und Mittelstanddramen. Trennungen, Schläge, Missbrauch hinter Vorhängen mit goldener Kante. Und niemand, um ihm das Laufen zu lehren.

Im Osten schluchzt die Alte träumend, denn sie weiß es. Die Fassaden stürzen ein und dahinter gibt es nichts.
Im Westen wehrt sich Antonin, stemmt sich gegen die Mauern, während das Dach über ihm zusammen bricht.
Und hier liegen wir, unter Nicol reißt der Boden auf. Alles Halten und Zerren bedeutet weiteren Schmerz, denn sein Funke ist nur ein mattes Glühen. Er sehnt sich nach dem Abgrund, und bevor er mich mit in die Tiefe reißen kann, lasse ich ihn gehen.

Montag, 1. Juli 2013

Elefantenmädchen - Kein Bock!









Sicherlich hatten die Eltern des Mädchens Gutes im Sinn, als sie es in dem Turnverein anmeldeten. Das Mädchen selbst hatte auch nicht allzu viel dagegen, fand es aufgrund seines freundlichen Wesens doch schnell Anschluss und freute sich über neue Bekanntschaften. Die erste Turnstunde verlief dann auch viel versprechend. Man übte sich im Dauerlauf und ohne viel Mühe tat sich das Mädchen hervor und erntete Lob. Auch die folgenden Stunden brachten Spaß, sodass das Mädchen schnell jegliche Zurückhaltung ablegte. Auch ein neuer Aufbau weckte kein Misstrauen. Eine Anlaufstrecke, ein Sprungbrett, ein vierbeiniges Gerät und eine weiche Matte für die sichere Landung verhießen nichts Beunruhigendes. Interessiert beobachtete das Mädchen, wie die Kameradinnen gazellengleich das Hindernis überwanden. Als es an der Reihe war, nahm es Anlauf, sprang ab und landete platschend auf der lederbezogenen Oberfläche des Bocks. "Nun ja, erster Versuch gescheitert, nicht aufgeben.", dachte das Mädchen noch und übersah, dass es sich auf dem Weg in die Hölle befand.

Das Körpergefühl ist eine garstige Sache und seine Entdeckung oft der Verlust der Unbefangenheit.

Am Abend begutachtete das Mädchen seine Beine und neben der rot gescheuerten Haut fiel ihm auch die Form auf, die sich deutlich von der der Gazellen unterschied. Elefantig war das Wort, das ihm in den Sinn kam. Und nicht nur ihm.

Ärgerlicherweise kam der Bock nun fast jede Stunde zum Einsatz und Lob erntete das Mädchen nur noch bei den seltenen Gelegenheiten, da es den Bock doch einmal ruckelnd übersprang und unsicher taumelnd auf der Matte landete. Und dieses Lob war so gönnerhaft, dass die Gazellen die Augen rollten und dem Mädchen ganz elend wurde. Später in der Umkleide fand es seine Straßenkleidung unter der laufenden Dusche.

In jener präpubertären Phase bildet sich nicht nur das eigene Selbstbewusstsein heraus, es steht und fällt auch mit dem Vergleich. Und es ist auch jene Phase, in der zickige Kleinmädchenspitzen die Durchschlagskraft einer Panzerfaust entwickeln. Spitzen gab es zu genüge. Abgesehen von der Tatsache, dass das Mädchen nun das Elefantenmädchen genannt wurde, fanden sich allzeit Gelegenheiten, sich über seine Unsportlichkeit lustig zu machen. Pädagogische Wahnvorstellungen und vielleicht eine kleine Prise Sadismus hielten die Gruppenleiterin vom Eingreifen ab. War das Elefantenmädchen doch auch zu verstockt, die Neckereien als Ansporn zu nehmen.

An einem Abend saß das Mädchen erschöpft vor dem Fernseher. Fast eine Stunde hatte es gedauert, den Geruch nach WC Stein aus der Wollmütze, die seine Mutter gestrickt hatte, zu waschen. Heimlich, versteht sich. Zu viele Lügen bezüglich verschmutzter/kaputter/ verschwundener Kleidungsstücke hatten seine Phantasie erschöpft. Aber dort auf dem Bildschirm ereignete sich Wunderliches und Wunderbares. Eine ganze Herde Gazellen floh in Panik vor einem Wesen, dass ihnen an Eleganz gleich war, sie aber an Geschwindigkeit übertraf. Mit leuchtenden Augen beobachtete das Mädchen, wie die Gepardin schließlich eine Gazelle zu Boden riss und ihr die langen Zähne in den schlanken Hals grub.

Am nächsten Tag wechselte das Elefantenmädchen in die Laufgruppe, deren Trainerin sich von der ausgeprägten Wadenmuskulatur beeindruckt zeigte. Ab und an versammelten sich einige der Gazellen am Rand der Laufbahn und kommentierten, bis man sie verscheuchte. Ein paar Mutige schlichen sich in die Umkleidekabine der Läufer, um sich dem Vandalismus zu widmen und den Terror durch seine Fortsetzung zu rechtfertigen.


Allein, das störte das Elefantenmädchen nicht mehr, denn eins wusste es: Entweder würde es in wenigen Jahren vollends zu einer wunderschönen Gepardin heran gereift sein, oder es würde sich eine Schrotflinte besorgen und die Dinge anderweitig regeln.

Mittwoch, 19. Juni 2013

Club Soledad


Ihr besten aller Leser, 
entgegen meiner Gewohnheit, will ich ein kurzes Vorwort einfügen. Die folgende Geschichte entspringt  meiner *auf Wunsch beliebiges Adjektiv einfügen* Phantasie, die Idee dazu stammt aber nicht von mir. Tatsächlich habe ich mich nach langem Zögern überzeugen lassen, mich als Mottoschreiberin zu versuchen und den folgenden Text zum Thema "seltsame Beziehungen" produziert. Und das schon letzte Woche, allerdings wollte ich mit der Veröffentlichung hier warten, bis er auf der anderen Seite präsent war. Nun habe ich nicht nur die Freude, einen neuen Text zu präsentieren, nein, ich kann auch noch auf die schönste Seite der Welt verlinken, wo Euch allerhand Lesenswertes erwartet. Viel Spaß!






Das schlechte Gewissen ist verschwunden. Irgendwo zwischen der ersten zufälligen Berührung und dem letzten heimlichen Fick in den Dünen auf der Strecke geblieben.

Wieder trägt Flo eines dieser unsäglichen Bandshirts. Eine seiner kleinen Alltagsracheaktionen und als Ellen ihn darauf anspricht, folgt wie selbstverständlich ein Achselzucken. Normalerweise bringt die Geste sie zur Weißglut, aber ihre Gedanken sind flatterhaft und leicht wie die aller Verliebter.

Sehnsucht ist das Gefühl, dass es niemals genug sein kann. Das Fehlen des Anderen. Manchmal auch schon der Moment der Trennung. Die Wehmut über den Zwang, schnell und unauffällig zu sein, mit noch keuchendem Atem und glühender Haut aufzubrechen. Sehnsucht ist die Reibung der Sandkörner.

Ellen spürt das Ende. Dieser Urlaub ist nicht der letzte Versuch, sondern der endgültige Beweis, dass sie gescheitert sind. Sie wollte in eine Großstadt, Flo ans Meer. Der Cluburlaub war ein Kompromiss, der sie nun beide nicht zufrieden stellt. Diese Erkenntnis gilt für jede Ebene, auf der sie einander begegnen und sie hat ihren Schrecken verloren.

Hinter der Begierde verbirgt sich etwas Tiefes, ebenso beängstigend wie verheißungsvoll. Nach dem letzten Mal drehte er sich noch einmal um, ein weißes Lächeln in seinem braungebrannten Gesicht und darüber ein seltsamer Blick, halb Flehen, halb Versprechen. Zungen, schwer von Unausgesprochenem, Gedanken wie Blei, aber in ihren Augen eine Gewissheit, die keine Stimme brauchte. Sehnsucht ist der Schweißfilm, der bleibt, wenn die Berührung bereits Vergangenheit ist.

Flo ist bei einer Gruppe Surfer stehen geblieben und unterhält sich. Alle Lethargie ist von ihm gewichen, seine Hände umkreisen einander gestikulierend und seine blauen Augen strahlen in dem zart gebräunten Gesicht. Der Anblick macht Ellen kurz wehmütig, schleudert sie zurück in die Zeit, in der alles neu war, in der Flos nachlässige Unbekümmertheit sie verzauberte. Der Moment geht schnell vorbei, als sich eine kalte Flüssigkeit über ihr weißes Kleid ergießt. Ein Lachen geht durch die Menge und schuldbewusst presst Flo seinen Daumen in die Öffnung der Bierflasche. Er murmelt eine Entschuldigung, aber seine Augen lächeln und Ellen spürt, wie Wut in ihr aufsteigt. Sie macht eine Geste in Richtung der Toiletten und verschwindet wortlos.Sie hatte von vornherein keine Lust, hierhin zu kommen, keine Lust auf Stockbrot, billiges Bier und Sandkörner in der Unterwäsche. Flo zuliebe ist sie mit gekommen, aber da er keinen Versuch unternimmt, ihr zu folgen, schlägt sie den Weg zum clubeigenen Restaurant ein, wo neben einem Buffet und höflichen Kellnern vielleicht auch der schöne Unbekannte wartet. Die Flecken auf dem hellen Kleid sind kaum sichtbar,dennoch ärgert sie sich darüber, als sie plötzlich eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahr nimmt. In dem dunklen Anzug sticht er ebenso wie sie aus der Menge des Strandpartyvolks heraus. Er winkt ihr zu und sie erwidert die Geste. Ihr Herz beschleunigt seinen Rhythmus und sie muss sich bemühen, nicht allzu hektisch auf ihn zu zu rennen, aber dennoch hat ihr Gang eine wippende Leichtigkeit gewonnen.

Als die Sonne versunken ist, wird es einfacher. Hände können sich in der Dunkelheit verirren und dabei gleichzeitig den richtigen Weg finden. Im Schein des Strandfeuers zählen Blicke doppelt und dreifach und was vorher Vermutung, Hoffnung war, wird nun zur Gewissheit. Quiero claridad. Wenn er spricht ist sein Gesicht voller Leben, eine faszinierende Bühne für das Spiel von Flamme und Schatten. Sehnsucht ist der Wunsch zu verglühen.

Ellen wirft den Kopf in den Nacken und lacht, als er einen Witz über die Strandhippies macht. Sie haben sich von der Party entfernt, spazieren dicht am Wasser entlang und lassen sich die Füße von den Wellen umspülen. Ellen genießt die Abkühlung ebenso wie seine Gesellschaft. Bereits am ersten Tag ihres Urlaubs war er ihr aufgefallen, aber zu dem Zeitpunkt hatte sie noch an etwas geglaubt, von dem sie jetzt weiß, dass es irreparabel zerstört ist. Immer wieder haben sich ihre Blicke in den vergangenen Tagen gekreuzt und bald schon ertappte sie sich dabei, wie sie nach ihm und seinem Lächeln suchte. Auch jetzt ist es wieder da, umspielt seine Lippen wie eine Andeutung und als er plötzlich stehen bleibt und ihre Hand nimmt, so dass sie sich zu ihm drehen muss, zuckt sie nicht zurück. Sie hat von diesem Kuss geträumt und nun ist sie zugleich enttäuscht über seine Zurückhaltung und geschmeichelt von der damit einhergehenden Höflichkeit.
„Wie heißt du?“
Er nickt, als hätte er diese Frage erwartet.
Das habe ich vor langer Zeit vergessen. Aber wenn du möchtest, kannst du mich den Fährmann nennen.“
„Was?“
Ellen lacht unsicher und tritt einen Schritt zurück, aber er hält ihre Hand weiter fest. Sanft küsst er ihre Fimgerknöchel und als er den Blick wieder hebt, haben seine Augen einen traurigen Ausdruck.
„Es tut mir leid, Ellen.“

Noch immer birgt der Sand die Hitze des Tages. Flo hat eine Entscheidung getroffen. Schon lange hat er Ellens Unzufriedenheit gespürt, die vielen Nörgeleien, die unzähligen Versuche, ihn zu verletzen. Er trägt ihr nichts nach und wünscht ihr das Allerbeste, all das wird er ihr sagen, aber erst morgen. Heute ist er berauscht von der Erleichterung und vom Glück. Neben ihm ringt Bartolome noch immer nach Atem und als er ihn gefunden hat, jagt sein Flüstern eine Gänsehaut über Flos glühenden Körper.
„Te quiero tanto.“

Das Wasser umspült ihre Knöchel eiskalt, aber Ellen kann sich nicht bewegen. Ihre Schreie sind stumm, aber noch immer ist ihr Mund weit geöffnet. Nur selten begreifen sie die Ausweglosigkeit ihrer Situation und gerade wenn sie so jung sind, tun sie dem Fährmann leid. Dennoch muss er seine Aufgabe zu Ende bringen. In seinen Fingern hält er ein Formular und trägt mit vor, was darauf geschrieben steht. Eigentlich ist das Papier eher Formsache, er erledigt seine Aufträge immer gewissenhaft und kennt den Inhalt längst. Mit sanfter, tiefer Stimme berichtet er Ellen von dem Kavernom, das wie eine köstliche verbotene Frucht in ihrer Medulla oblongata heran gereift ist, um in diesem Moment aufzubrechen. Die Welle ist rot und warm, wogt zwischen den Welten und Ellen gleitet darauf und ihre Gedanken sind so leicht und flatterhaft wie die aller Verliebten.

Freitag, 7. Juni 2013

Im Mais



Und Nina und Nina und Nina...

 






In jenem Sommer war die Haut meiner Beine so trocken und rissig wie der sonnenverbrannte Boden. Der Junge, dessen Namen die Zeit verschluckt hat, lag neben mir. Nicht weit weg schlief das Mädchen schon lange genug, dass der diensthabende Kommissar später sein Frühstück im Gebüsch lassen würde. Ich hatte immer geglaubt, meine Unschuld eines Tages hinter der Grillhütte zu verlieren, wo die Älteren am Wochenende abhingen und benutzte Kondome sich mit leeren Flaschen auf einem ansehnlichen Hügel türmten. Nina, flüsterte der Junge und anders als vor vier Tagen roch sein Atem nicht nach Gin und ich hasste es trotzdem. Dieses Mal waren wir unter freiem Himmel und nicht in der Scheune seiner Eltern. Kein Blutfleck in der Unterhose, kein Schmerz und auch keine Freude. Meine Entjungferung war ein mechanischer Vorgang gewesen. Rein raus, und ich hatte nichts gespürt. Nur die neugierigen Blicke der Zwergkaninchen, die uns bei unserem seltsamen Treiben beobachtet hatten.
Nina. Wieder sein Flüstern, als seine Hand unter meinen Rock glitt. Nina. Es war nicht sein Fehler, er war neu hier und wir hatten uns ähnlich gesehen. Zwergkaninchen, Brachylagus Idahoensis. Der Gedanke an ihre starren Augen, die widerliche Bewegung ihrer Münder. Ninas Mund hatte auf meinem gelegen. Wir hatten uns geküsst, damit er auf uns aufmerksam wurde. Ich war die Glückliche gewesen. Ich hatte mit ihm in die Scheune gehen dürfen. Der frühere Besitzer, Herr Knock, hatte Meerschweinchen gezüchtet. Als Kinder waren wir oft dort gewesen. Nina und ich und viele andere. Die Meerschweinchen streicheln. Ganz weich und flauschig und warm. Warm. Ninas Lippen waren warm gewesen und hatten nach Anis geschmeckt. Verdammt. Im Maisfeld fiel es mir ein. Man hatte Knock in seiner Scheune gefunden. Gerüchte, dass wir die Meerschweinchen nicht ohne Gegenleistung hätten sehen dürfen. Keine Beweise, aber das Dorf vergisst nicht. Bevor er mit der Schlinge um den Hals vom Heuboden gesprungen war, hatte er die Käfige geöffnet. Der Junge zog mich an sich, seine Hand unter meinem Rock. Als seine Zunge in meinen Mund glitt, stellte ich mir vor, er wäre Nina. Nina. Nina. Nina. Ich dachte und er flüsterte und beide meinten wir das Gleiche und doch nicht das Selbe. Aber dieses Mal wollte ich spüren, wollte, wollte so Vieles als ich ihn auf den Boden drückte und mich auf ihn setzte.
Als er in mir war, dachte ich an das Rattengift im Futter und ein warmer Schauer lief mir über den Rücken. Ich war diejenige, die bestimmte, zum ersten Mal in meinem Leben ganz auf mich allein gestellt und ich machte es gut, machte es richtig, denn er wand sich unter mir, keuchte, schrie. Nina hatte mich angeschrien, am Tag danach, genau hier im Maisfeld. Zuerst aus Eifersucht, dann aus Wut und Abscheu wegen meines Geständnisses und zuletzt aus purer Angst. Als ich kam, verwandelte sich sein Stöhnen in ein Krächzen und ich legte die Hände noch fester um seinen Hals. Auf dem Heimweg musste ich eine Telefonzelle suchen, um der Polizei zu erklären, dass zwei Jugendliche im Mais schliefen.
Dann dachte ich an die Kaninchen und begann, dieses Lied zu pfeifen.

Sonntag, 26. Mai 2013

Ich will aber!




 
Ich bin kein „will aber!“ Kind. Nie gewesen. Aber jetzt gerade schlägt's mir aufs Gemüt und da ich niemandem die Schuld geben kann, einfach mal die Forderung:

                                              ICH WILL FRÜHLING!

Oder wenigstens einen Sonnentag. Einen ganz kleinen. Zum Rausgehen, anstatt den Nachmittag vor dem Rechner zu hängen und mit Photos aus sonnigeren Zeiten zu spielen.