Mittwoch, 13. März 2013

Am See






Jetzt ist der See nicht mehr als ein schwarzes Loch. Die Natur hat ihn sich zurück erobert. Wildes Gestrüpp wuchert an beiden Seiten und die Planken des Stegs sind graugrün, totes Holz und Moos.
Das Mädchen im gelben Mantel passt nicht ins Bild. Verloren und gleichzeitig anziehend, wie eine Rettungsboje, sticht sie aus der kahlen Landschaft. Ihr Name ist Marie und man weiß, dass sie zu jenen gehört, die es schaffen können. Das Dieter Bohlen Syndrom, nicht begabt, aber fleißig. Dunkles Haar fällt über dunkle Augen, ein helles, offenes Gesicht: jene Art bescheidene Schönheit, die man hin nimmt ohne dahinter blicken zu wollen. Einzig ihre Einsamkeit, die Art und Weise, wie sie in den dunklen See starrt, vermitteln eine Tiefe, die sie nicht besitzt.
Im Sommer vor drei Jahren waren die Menschen an den See zurück gekehrt. Ein kurzes Wiedersehen. Der Sohn von Maries Nachbarn, damals sieben oder acht Jahre alt, hatte beim Schwimmen einen epileptischen Anfall und wäre fast ertrunken. Zum Glück sah ihn jemand untergehen und man zog ihn rechtzeitig aus dem Wasser. Marie war nicht dabei, nie im Leben wäre sie in das schwarze Wasser gestiegen, sie weiß, was einsam in den Tiefen schläft. Alte Albträume sterben nicht. Das Kind soll hysterisch geschrien haben und nicht zu beruhigen gewesen sein. Noch eine Woche später zeichneten sich blaue Flecken um seinen Knöchel ab. Marie hat sie gesehen. Fingerabdrücke einer Hand, die zupackt, umklammert, nach unten zerrt… .
Marie schüttelt die Gedanken ab. Sie ist nicht seicht genug, um keine Geheimnisse zu haben. Warmes Leben, helle Antithese zu der Finsternis im See, schläft im Ozean zwischen ihren Hüften. Schläft und wächst. Vor fünf Monaten ist es entstanden, vor vier Monaten hat sie es bemerkt und vor drei Monaten rettete sie es, indem sie gegen die Abmachung verstieß und kurz vor dem Termin aus dem kalten weißen Zimmer floh. Seitdem ist es schwer geworden, in ihrem Körper, noch mehr aber in ihrem Kopf. Ein Mädchen mit Lars hellem Haar und ihren braunen Augen.
Er wollte es nicht, aber er war ängstlich damals, verunsichert und daher rührten all die schlimmen Worte, die er sagte. Heute wird Marie ihn umstimmen. Es wird klappen. Sie hat alles genau durch geplant. Schön sieht es in ihrem Kopf aus. Eine warme, bunte Zukunft.
Schritte. Marie dreht sich um und er steht vor ihr, groß, breitschultrig, lächelnd. Sie mag es, wie sich seine Hand auf ihren Hintern legt, wenn er sie zur Begrüßung küsst. Lars. Etwas verwundert ist er über den Treffpunkt, aber Marie nimmt seine Hand, wandert mit ihm um den See und redet. All die Worte die so schwer auf ihr lasteten, perlen leicht über ihre Lippen, das Geheimnis, das einer Lüge nahe kommt, wird an der Luft schwerelos. Maries Herz füllt sich mit Wärme, denn Lars lässt ihre Hand nicht los, lauscht ihrem Geständnis stumm, lächelt sanft und schließt sie dann fest in die Arme.


Ein schönes Bild bieten sie, wie sie da stehen, am Ende des Stegs, eng umschlungen und mit dem Blick in die Zukunft, und es ist nur dieser kleine Stoß, der das Bild zerstört. Ein kleiner Stoß von einer starken Hand, der Marie aus der Wintersonne in das dunkle Wasser befördert, wo Februarkälte nach ihr beißt und brutal den Atem aus ihren entsetzten Lungen presst. Marie kämpft, aber der gelbe Mantel saugt sich voll, unzählige Hände ziehen sie in die Tiefe. Himmel und Erde stehen Kopf und nur verschwommen erkennt sie Lars Gesicht, weit über ihr und weiß trotzdem, dass er noch immer lächelt. Und als Marie aufgibt, sich dem Unausweichlichen fügt und zum ersten Mal in ihrem kurzen Leben der Tiefe nachgibt, ist da ein anderes Gesicht, das aus der Schwärze langsam zu ihr empor steigt, ein anderes, vertrautes Lächeln und ein Körper, der sie in eine letzte, bittere Umarmung zieht.