Geschätzter Leser,
Hier folgt die Fortsetzung eines anderen Textes, der unter meinem gestrengen Blick mehrmals den Titel ändern musste. Ich tue mir mit der Titelfindung schwer, manchmal dauert selbige länger, als das eigentliche Schreiben. Ganz zufrieden bin ich mit dem Titel noch immer nicht und da der Geschichte eine weitere Fortsetzung folgen wird, freue ich mich über Vorschläge. Falls also Du, liebster Leser, eine Idee hast, scheue Dich nicht, sie mir mitzuteilen, sei es per Mail oder Kommentar.
Die Nonnen beäugten Gabriel und
mich amüsiert, verwundert ob der Tatsache, dass ein so niedliches
Kind ausgerechnet meine Nähe suchte. Sie schoben es darauf, dass wir
am selben Tag im Heim eintrafen und uns lieber aneinander hielten,
als zu versuchen, einen Platz in einer der Gruppen zu finden. Bis
heute lässt es mich nicht los, dass diese Frauen, die sich bis zur
Selbstaufgabe der Spiritualität verschrieben hatten, so blind sein
konnten, wenn sie ihnen begegnete. Gabriels Seele wanderte neben
meiner durch die Finsternis und wir hatten einander gekannt, noch
bevor ich ihm begegnete.
Sie lacht, als wäre
ihr das eben gezeigte Pathos unangenehm, aber ihre Augen bleiben
ernst. Er hat aufgehört, sich Notizen zu machen. Zuviel entgeht ihm,
wenn er den Blick von ihrem Gesicht nimmt. Man hat ihn davor gewarnt,
sich von ihrem träumerischen Tonfall und dem unscheinbaren Äußeren täuschen zu lassen.
Geheimnisse waren
von Anfang an wichtig. In einer Umgebung, die kaum Privatsphäre ließ
und das Alleinsein zu einem Luxusgut erhob, waren es zuerst Orte. Die
Abstellkammer. Ein Loch in der Hecke oder der Platz hinter der
Spülküche, wo die Mülltonnen standen. Martha fand sie schnell,
denn obgleich die Nonnen überall zu sein schienen, war selten jemand
zur Stelle, wenn die anderen Kinder ihre Lust an der Grausamkeit
auslebten. Gabriel hingegen war nicht auf der Suche nach einer
Zuflucht. In der Nacht der Glühwürmchen hatte er gelernt, seinen
Geist auf Wanderschaft zu schicken, wenn ihm danach war, aber ihn
trieben andere Geheimnisse. Ein Messer, das – während des
Spüldienstes gestohlen und mit einem Stein geschärft –
ausprobiert sein wollte. Er hatte es bereits einige Male in die Rinde
eines Baums getrieben, als er bemerkte, dass er nicht allein war.
Jenen ersten Nachmittag verbrachten
wir schweigend. Es dauerte, bis wir Worte fanden und in der Lage
waren, sie aneinander zu richten.
Er steht auf,
murmelt eine Entschuldigung und verschwindet in der Toilette. Es
braucht mehrere Ladungen kaltes Wasser, bis die Erschöpfung
schwindet. Als er zurückkommt, hält sie wieder die Bilder in den
Händen, aber ihr Blick ist auf ihn gerichtet. Sie macht ein
Kompliment über seine Augen, aber wenngleich er zu Beginn des
Gesprächs gehofft hat, dass sie ihr auffallen würden, spürt er nun
Beklemmung.
Als sie einmal zu
reden begonnen hatten, hörten sie nicht mehr auf. Ihre Stimmen,
ruhig und betont, glichen denen der Nonnen, wenn sie den Kindern im
Gemeinschaftssaal Märchen vorlasen. Auch die Gestalten besaßen
grimmsche Züge, aber ihre Gemüter waren dunkler und ihre Taten
grausamer. Die Hexe mästete mit Hass, der Spiegel verspottete
Schneewittchen und die Prinzen trugen blutbeschmierte Messer. Martha
und Gabriel teilten Entsetzen, sie wuchsen dort zusammen, wo ihre
Seelen gerissen waren, zarte Triebe, die in der Finsternis keimten.
Man kann den Nonnen Vieles
vorwerfen. Schläge, die Beschimpfungen oder die über allem
wabernde, alles entschuldigende Ergebenheit. Vermutlich waren auch
sie verängstigte Geschöpfe,die hinter der geschlechtslosen Würde
ihrer Tracht und den Mauern der Gottesfürchtigkeit Schutz vor der
Welt suchten. Aber, verdammt, sie hätten uns vorbereiten müssen. .
Er kennt die Akten,
weiß um ihre weitere Geschichte und dennoch fürchtet er sich davor,
sie aus ihrem Mund zu hören. Ihre Augen wandern über sein Gesicht
und er weiß, wonach sie sucht und fürchtet, dass sie es finden
könnte.
Die Zeit floh und
mit ihr der mickrige Rest einer Kindheit. Das neue Heim war größer
und moderner. Die Flure rochen nach frischer Farbe, reformierten
Konzepten und uralten Abgründen. Gabriel war allein. Seine Angst und
Unsicherheit verbarg er hinter offensiven Blicken und derber Sprache.
Sie waren zu sechst auf dem Zimmer, aber bereits die zweite Nacht
verbrachte Gabriel in der stillen Einsamkeit der Krankenstation.
Schmerzmittel betäubten seinen Körper, aber in seinem Kopf loderte
blankes Entsetzen. Er konnte keine Hilfe erwarten. Nicht vom
Etagenaufseher, der gehört haben musste, was in Raum 217 geschah,
der aber erst eingriff, als Gabriel blutüberströmt den Flur entlang
kroch.Nicht von der Krankenschwester, die ihn, kalte Routine im
Blick, versorgt hatte. Nicht vom Direktor, der ankündigte, Gabriels
Zimmergenossen mit Putzdienst zu bestrafen und zwinkernd hinzufügte,
dass sie so den ordnungsgemäßen Umgang mit Besen lernen würden. Es
gab keinen Halt und Gabriel ließ sich fallen, tiefer und dunkler,
bis er blind und beinahe willenlos war und es war Zufall, dass sein
Geist den kühlen Griff des Messers streifte und an der glatten
Oberfläche Halt fand.
Martha zählte die
Tage bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Ohne Gabriel wuchs sich das
Alleinsein zur Einsamkeit aus. Ihr Geist benötigte keinen
Rückzugsort, vielmehr drängte er nach vorne, reckte sich jeder Hand
entgegen, die ein Streicheln verhieß. Als Gabriels erster Brief sie
erreichte, trug sie ihn einige Stunden lang in der Hosentasche, um
die Vorfreude auszudehnen. Aber Martha züchtete Enttäuschung.
Fetzen von Gabriels Handschrift, unzusammenhängend und fremd,
zusammengekauert zwischen schwarzen Balken, die nicht mit Spucke oder
Seife, nicht einmal mit der Nagelbürste zu entfernen waren. Das
Schwarz machte ihr Angst, ein Blick in den Abgrund, bodenlos. Am Ende
ein unpersönlicher Gruß und das Post Scriptum, scharf und
unerbittlich wie eine Klinge. „Hier sind alle Prinzen.“