Dienstag, 20. August 2013

Generation 3 (II)

 Geschätzter Leser,
 Hier folgt die Fortsetzung eines anderen Textes, der unter meinem gestrengen Blick mehrmals den Titel ändern musste. Ich tue mir mit der Titelfindung schwer, manchmal dauert selbige länger, als das eigentliche Schreiben. Ganz zufrieden bin ich mit dem Titel noch immer nicht und da der Geschichte eine weitere Fortsetzung folgen wird, freue ich mich über Vorschläge. Falls also Du, liebster Leser, eine Idee hast, scheue Dich nicht, sie mir mitzuteilen, sei es per Mail oder Kommentar.  







Die Nonnen beäugten Gabriel und mich amüsiert, verwundert ob der Tatsache, dass ein so niedliches Kind ausgerechnet meine Nähe suchte. Sie schoben es darauf, dass wir am selben Tag im Heim eintrafen und uns lieber aneinander hielten, als zu versuchen, einen Platz in einer der Gruppen zu finden. Bis heute lässt es mich nicht los, dass diese Frauen, die sich bis zur Selbstaufgabe der Spiritualität verschrieben hatten, so blind sein konnten, wenn sie ihnen begegnete. Gabriels Seele wanderte neben meiner durch die Finsternis und wir hatten einander gekannt, noch bevor ich ihm begegnete.

Sie lacht, als wäre ihr das eben gezeigte Pathos unangenehm, aber ihre Augen bleiben ernst. Er hat aufgehört, sich Notizen zu machen. Zuviel entgeht ihm, wenn er den Blick von ihrem Gesicht nimmt. Man hat ihn davor gewarnt, sich von ihrem träumerischen Tonfall und dem unscheinbaren Äußeren täuschen zu lassen.

Geheimnisse waren von Anfang an wichtig. In einer Umgebung, die kaum Privatsphäre ließ und das Alleinsein zu einem Luxusgut erhob, waren es zuerst Orte. Die Abstellkammer. Ein Loch in der Hecke oder der Platz hinter der Spülküche, wo die Mülltonnen standen. Martha fand sie schnell, denn obgleich die Nonnen überall zu sein schienen, war selten jemand zur Stelle, wenn die anderen Kinder ihre Lust an der Grausamkeit auslebten. Gabriel hingegen war nicht auf der Suche nach einer Zuflucht. In der Nacht der Glühwürmchen hatte er gelernt, seinen Geist auf Wanderschaft zu schicken, wenn ihm danach war, aber ihn trieben andere Geheimnisse. Ein Messer, das – während des Spüldienstes gestohlen und mit einem Stein geschärft – ausprobiert sein wollte. Er hatte es bereits einige Male in die Rinde eines Baums getrieben, als er bemerkte, dass er nicht allein war.

Jenen ersten Nachmittag verbrachten wir schweigend. Es dauerte, bis wir Worte fanden und in der Lage waren, sie aneinander zu richten.

Er steht auf, murmelt eine Entschuldigung und verschwindet in der Toilette. Es braucht mehrere Ladungen kaltes Wasser, bis die Erschöpfung schwindet. Als er zurückkommt, hält sie wieder die Bilder in den Händen, aber ihr Blick ist auf ihn gerichtet. Sie macht ein Kompliment über seine Augen, aber wenngleich er zu Beginn des Gesprächs gehofft hat, dass sie ihr auffallen würden, spürt er nun Beklemmung.

Als sie einmal zu reden begonnen hatten, hörten sie nicht mehr auf. Ihre Stimmen, ruhig und betont, glichen denen der Nonnen, wenn sie den Kindern im Gemeinschaftssaal Märchen vorlasen. Auch die Gestalten besaßen grimmsche Züge, aber ihre Gemüter waren dunkler und ihre Taten grausamer. Die Hexe mästete mit Hass, der Spiegel verspottete Schneewittchen und die Prinzen trugen blutbeschmierte Messer. Martha und Gabriel teilten Entsetzen, sie wuchsen dort zusammen, wo ihre Seelen gerissen waren, zarte Triebe, die in der Finsternis keimten.

Man kann den Nonnen Vieles vorwerfen. Schläge, die Beschimpfungen oder die über allem wabernde, alles entschuldigende Ergebenheit. Vermutlich waren auch sie verängstigte Geschöpfe,die hinter der geschlechtslosen Würde ihrer Tracht und den Mauern der Gottesfürchtigkeit Schutz vor der Welt suchten. Aber, verdammt, sie hätten uns vorbereiten müssen. .

Er kennt die Akten, weiß um ihre weitere Geschichte und dennoch fürchtet er sich davor, sie aus ihrem Mund zu hören. Ihre Augen wandern über sein Gesicht und er weiß, wonach sie sucht und fürchtet, dass sie es finden könnte.

Die Zeit floh und mit ihr der mickrige Rest einer Kindheit. Das neue Heim war größer und moderner. Die Flure rochen nach frischer Farbe, reformierten Konzepten und uralten Abgründen. Gabriel war allein. Seine Angst und Unsicherheit verbarg er hinter offensiven Blicken und derber Sprache. Sie waren zu sechst auf dem Zimmer, aber bereits die zweite Nacht verbrachte Gabriel in der stillen Einsamkeit der Krankenstation. Schmerzmittel betäubten seinen Körper, aber in seinem Kopf loderte blankes Entsetzen. Er konnte keine Hilfe erwarten. Nicht vom Etagenaufseher, der gehört haben musste, was in Raum 217 geschah, der aber erst eingriff, als Gabriel blutüberströmt den Flur entlang kroch.Nicht von der Krankenschwester, die ihn, kalte Routine im Blick, versorgt hatte. Nicht vom Direktor, der ankündigte, Gabriels Zimmergenossen mit Putzdienst zu bestrafen und zwinkernd hinzufügte, dass sie so den ordnungsgemäßen Umgang mit Besen lernen würden. Es gab keinen Halt und Gabriel ließ sich fallen, tiefer und dunkler, bis er blind und beinahe willenlos war und es war Zufall, dass sein Geist den kühlen Griff des Messers streifte und an der glatten Oberfläche Halt fand.

Martha zählte die Tage bis zu ihrem vierzehnten Geburtstag. Ohne Gabriel wuchs sich das Alleinsein zur Einsamkeit aus. Ihr Geist benötigte keinen Rückzugsort, vielmehr drängte er nach vorne, reckte sich jeder Hand entgegen, die ein Streicheln verhieß. Als Gabriels erster Brief sie erreichte, trug sie ihn einige Stunden lang in der Hosentasche, um die Vorfreude auszudehnen. Aber Martha züchtete Enttäuschung. Fetzen von Gabriels Handschrift, unzusammenhängend und fremd, zusammengekauert zwischen schwarzen Balken, die nicht mit Spucke oder Seife, nicht einmal mit der Nagelbürste zu entfernen waren. Das Schwarz machte ihr Angst, ein Blick in den Abgrund, bodenlos. Am Ende ein unpersönlicher Gruß und das Post Scriptum, scharf und unerbittlich wie eine Klinge. „Hier sind alle Prinzen.“