Freitag, 11. Januar 2013

Gratwanderer


 

Am Rand eines anderen Abgrunds.
Der Sommer lag im Sterben, als ich mich zum letzten Mal von Talla verabschiedete. Seit mehr als zwei Jahren hatte ich sie nicht mehr gesehen, ich wusste nicht einmal, wer mir die Traueranzeige geschickt hatte und erst während der Rede des Pfarrers erfuhr ich, wie sie gestorben war. Schnell und heftig, wie das Leben, nach dem Talla sich immer gesehnt hatte, dem sie mit atemloser Begeisterung hinterher gejagt war, bis ihr Herz aufgab. Ich wusste, dass sie sich weinende, klagende Menschen gewünscht hätte. Sicher hatte sie geahnt, dass ich dazu nicht in der Lage sein würde und damit Recht behalten. Immerhin trug ich mein Schwarz ohne das alberne, selbstdarstellerische Pathos, das unsere ehemaligen Freunde an den Tag legten. Sie waren ausnahms- und rücksichtslos erschienen. Falls überhaupt möglich, hasste ich sie noch mehr als früher. Weder die Jahre, noch dunkler Zwirn hatten ausgereicht, um aus ihnen Erwachsene zu machen. Das Ereignis schon gar nicht. Bot es doch die Möglichkeit, sich einander nach all der Zeit wieder anzunähern, die sonnenbebrillten Gesichter erst in Betroffenheitsfalten und dann aneinander zu legen. Ich lauschte den Worten des Pfarrers, die ebenso schön wie leer waren. Tagelang hatte ich in mir nach Gefühlen gesucht, Trauer, Reue, irgendeine Regung, aber ich hatte nichts gefunden und suchte noch immer, als der Sarg zu den Klängen von Ave Verum aus der Halle getragen wurde. Ich folgte ihm und wurde verfolgt. Der Mann gehörte nicht zu den gemeinsamen Bekannten und die beinahe aggressive Neugier in seinem Blick weckte in mir auch nicht den Wunsch, das zu ändern. Ich sah zu, wie der Sarg in die Grube gelassen wurde und verschwand, ohne ihm eine Schaufel Erde
hinterher zu werfen oder Tallas Eltern zu kondolieren. Sie hätten sowieso nicht gewusst, wer ich war.

Müdigkeit lag schwer auf meinen Schultern. Jene Sorte Müdigkeit, die nicht nach Schlaf sondern etwas Tieferem, Elementaren verlangt. Ich hatte die schwarze Jacke in die Ecke geworfen und sehnte mich nach Geistigem, um den schalen Nachgeschmack des Geistlichen weg zu spülen, als es klingelte. Ich bekam selten genug Besuch, um einen Zufall auszuschließen. Jemand war mir gefolgt, und würde es nicht dulden, ignoriert zu werden. Das verriet bereits die Art und Weise des Klingelns und ich ahnte, wer vor meiner Tür stand. Ich kannte ihn nicht, hatte ihn vor wenigen Stunden erstmals gesehen, aber sein Blick hatte mich verfolgt. Und nichts von seiner Intensität verloren, Wahnsinn loderte mir entgegen, als ich die Tür öffnete. Dunkelblau, ein Hauch Wut und so wilde Verzweiflung, dass ich unwillkürlich zurücktrat, um ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Bevor ich das tun konnte, schob er seinen Fuß hinein und ich tastete nach dem Hockeyschläger, der an der Garderobe lehnte. Als er mir eine Faust entgegen streckte, glaubte ich einen kurzen, rationalen Moment lang, er würde mich schlagen, aber als ich begriff, traf es mich weitaus härter. Er streckte mir seinen Ring entgegen. Mattes Silber mit einer gemusterten Oberfläche. Ungewöhnlich, aber nicht ungewohnt. Schließlich hatte ich den Abdruck seines Zwillings tagelang auf der Stirn getragen.


Er betrachtet mein Wohnzimmer mit angespanntem Interesse, die Frage ins Gesicht tätowiert. Ich kann ihn beruhigen. Talla wohnte niemals hier, hierher flüchtete ich, als ich sie endgültig nicht mehr ertragen konnte und hier war ich geblieben, während sie sich im Sog der Welt verlor. Sein Name ist Nils. Talla hat so häufig von ihm gesprochen, aber erst in diesem Moment, in dem er vor mir sitzt, realisiere ich , dass er mehr ist, als eine fiktive Figur ihrer bizarren Erzählungen. Abgesehen von einer Flasche Wild Turkey habe ich nichts im Haus und wir geben uns beide damit zufrieden. Was folgte, war Tangentialgerede. Dinge, die nicht schmerzten, während wir einander einschätzten und abwogen. Letztlich war er es, der die Initiative ergriff. Mit bohrendem Blick und Stahl in der Stimme.

„Hast du sie gefickt?“


Teil 2

 

 

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