Freitag, 13. März 2015

Im Beet (Tiens, Mallika!)

Er ist entschlossen, zu gehen.
Im Januar waren sie geflohen. Vor anklagenden Augen. Vor Lippen, die nicht müde wurden, bösartige Worte wie üblen Mundgeruch zu verbreiten. Sie kamen nicht an, flohen nun voreinander. Er in sein Studium, sie in die Gärtnerei. Wie Schlafwandelnde trafen sie abends aufeinander. Er kochte Gerichte, die er schweigend vor dem Fernseher verzehrte, während sie nach wenigen Bissen das Besteck nieder legte und schlafen ging. Blaue Schatten wuchsen unter ihren Augen. Das Schweigen gedieh zwischen ihnen beiden, grub fahle Wurzeln in den vergiften Boden. Nachts erwachte er von ihren Schreien, ihren trommelnden Fäusten und ihren Nägeln, die sich gnadenlos in seine Brust krallten. Die wenigen Male die sie miteinander schliefen waren unerträglich. Ängstlich huschten ihre Augen über sein Gesicht, ihr Feenkörper versteifte sich und später lag sie zitternd und weinend in seinen Armen. Sie fiel und er konnte sie nicht halten. Das Tier war gefangen, aber die Dämonen hatten sie verfolgt.
Der Exorzist war ein Blumengroßhändler und statt eines Rosenkranzes, brachte er drei Paletten verkümmerter Gardeniensetzlinge. Sie verbrachte ihre Tage im Gewächshaus, zählte die Pflanzentriebe wie eine Mutter die Finger und Zehen ihres Neugeborenen. Einige spezielle Sorgenkinder platzierte sie auf den Fensterbänken der Wohnung. Anfangs beunruhige ihn ihr Eifer, er versuchte sich in der Analyse und gab es schließlich auf. Der Grund war jenes Rot, das ihre Wangen färbte, wenn sie abends von ihren Pflanzen sprach. Der Grund war ihr tiefer ruhiger Schlaf, die Erschöpfung, die Albträumen keinen Raum ließ und das Flüstern, dass sie leben wolle.
Der April zog ungewohnt mild ins Land, ließ Verkümmertes wachsen und weckte ihn eines Morgens mit einem schwachen, betörenden Geruch, der ihn auch den restlichen Tag über nicht verließ. Es war dieser Geruch, der ihn am frühen Abend dazu brachte sie entgegen seiner Gewohnheit von der Arbeit abzuholen. Der Laden war bereits geschlossen und er betrat das Gewächshaus wo ihn die Sinneseindrücke überwältigten.
Subtropisch schlug es ihm entgegen, der vertraute Duft um ein vielfaches verstärkt, unterlegt von Tönen, die ihn verschwommen an den Musikunterricht erinnerten. “Sie spielt ihnen Delibes vor, natürlich.” Das Lächeln, das diesem Gedanken folgen wollte, entschied sich anders. Denn da war sie, die Augen geschlossen, filigranes Muskelspiel, kein Tanz sondern eine so hingebungsvolle Liebeserklärung an die Musik, dass er sich wie ein Spanner fühlte. Aber keine Wut lag in ihrem Gesicht als sie ihn sah, sondern etwas Fremdes, Anziehendes. Er hatte sie nur küssen wollen und es war nicht so sehr die Tatsache, dass sie die Schürze von ihrem Körper gleiten ließ oder die Entdeckung, dass sie darunter nackt war, als ihr Blick, fest und fordernd, der mehr verlangte. Später, als sie einander lächelnd die warme, klebrige Erde von den erschöpften Körpern wischten und das zerwühlte Beet wieder glatt harkten, kam die Angst.
Unbegründet. Der Sommer war üppig. Tag und Nacht wehte eine sanfte Brise, trug den Duft der blühenden Gardenien in die Wohnung und trocknete den Schweiß. Der Sommer klang nach ihrem überraschend kehligen Lachen und schmeckte würzig. An jenem Nachmittag im Gewächshaus hatte er geglaubt, Lust in ihren Augen zu sehen, aber es war mehr. Maßloser Hunger und nichts vermochte ihn zu stillen. Eine wilde Routine stellte sich ein. Abends kochte er opulente, scharfe Gerichte, die sie gierig verschlang und dazu Rotwein trank. Sie wuchs. Wenn sie sich liebten, schlangen sich muskulöse Beine um seine Hüften, war es ein sinnlicher Körper, der dann erschöpft über seinem zusammen sank. Im Dunkeln lagen sie nebeneinander, gönnten ihren ausgelaugten Körpern Ruhe und flüsterten von der Zukunft. Hin und wieder blickte er zu der Silhouette der Blüte, die sich vor dem hellen Himmel der Stadt abzeichnete. Er war nicht eitel genug, um sich für ihre Veränderung verantwortlich zu fühlen und deshalb gönnte er ihren Pflanzen einen Teil der Leidenschaft. Morgens stand sie vor ihm auf, richtete die Blumentöpfe neu aus und fabrizierte im eigens dafür angeschafften Mörser ihre Düngemischung. Er mochte das stumpf knirschende Geräusch, noch mehr dessen Ende, denn es kündigte an, dass noch einmal ins Bett kam und mit ihm schlief bevor sie in den Tag gingen, der nur geschaffen war, um die Vorfreude auf das Wiedersehen zu steigern. Allein: der Wind flaute ab.
Der September lag stickig über der Stadt, als ihm das erste Mal auffiel, wie riesig die Pflanzen geworden waren. Er spürte leichten Widerwillen, als er eines der ledrigen Blätter berührte. Der Geruch war allgegenwärtig. Noch immer waren die Abende fröhlich, aber es fiel ihm immer schwerer, sich auf ihre Erzählungen, auf überhaupt etwas anderes als dieses schwere, süße Aroma zu konzentrieren. Seine Lust auf sie ließ nach, aber das schien sie nicht zu stören. Ruhig schlief sie neben ihm, während er wach lag und die Pflanzen so lange anstarrte, bis sich die fleischigen Blüten vor seinen Augen ins Monströse auswuchsen. Er bat sie, die Pflanzen aus der Wohnung zu schaffen, sie weigerte sich und zum ersten Mal stritten sie lautstark miteinander. Als er wütend und geschlagen das Haus verließ, wünschte er sich für einen kurzen, schuldbewussten Moment das zarte, gebrochene Wesen von einst herbei. Schon morgens verursachte ihm der Gardeniengeruch Übelkeit bis zum Erbrechen, schwefelgelb wie der Himmel vor einem Gewitter und höhnisch grinsten die Blüten von der Fensterbank, während das Geräusch des Stößels Löcher in seine Schädeldecke schlug.
Es ist kalt, aber besser als in der Wohnung, wo sie das Klima feucht und warm hält. Er hat es sich angewöhnt, vor ihr aufzustehen und dann in einem Café zu frühstücken. Nach der Uni besucht er oft Freunde oder bleibt in der Bibliothek bis diese schließt. Eigentlich ist er nur noch zum Schlafen zuhause und auch das wird sich ändern. Es ist wieder wie früher. Es ist schlimmer als früher, denn jetzt weiß er, wie es sein könnte, hat die bitter gewordene Erinnerung an diesen unglaublichen Sommer. Ein Kommilitone hat angerufen und ihm ein Zimmer angeboten. Deswegen kehrt er nun um anstatt zur Uni zu fahren. Er will es gleich hinter sich bringen. Im Treppenhaus empfängt ihn “Viens Mallika” in ohrenbetäubender Lautstärke und er schiebt die schimpfende Vermieterin beiseite und stürmt, immer drei Stufen auf einmal, nach oben denn noch lauter als die Musik hört er Poltern und ihre Schreie. Die Wohnungstür ist nur angelehnt und im Flur liegen Pflanzenteile zwischen Tonscherben und Erdhaufen. Auf dem Tisch steht der Mörser und daneben liegt ein kleines, irgendwie vertrautes Päckchen mit der Aufschrift “Diane” und dann hält er inne denn da steht sie. Nackt, mit einem Vorschlaghammer in der Hand und sein Blick fällt zuerst auf ihr tränenüberströmtes Gesicht und dann auf ihren gewölbten Bauch.