Er ist entschlossen, zu gehen.
Im Januar waren sie geflohen. Vor anklagenden Augen. Vor Lippen,
die nicht müde wurden, bösartige Worte wie üblen Mundgeruch zu
verbreiten. Sie kamen nicht an, flohen nun voreinander. Er in sein
Studium, sie in die Gärtnerei. Wie Schlafwandelnde trafen sie abends
aufeinander. Er kochte Gerichte, die er schweigend vor dem Fernseher
verzehrte, während sie nach wenigen Bissen das Besteck nieder legte
und schlafen ging. Blaue Schatten wuchsen unter ihren Augen. Das
Schweigen gedieh zwischen ihnen beiden, grub fahle Wurzeln in den
vergiften Boden. Nachts erwachte er von ihren Schreien, ihren
trommelnden Fäusten und ihren Nägeln, die sich gnadenlos in seine
Brust krallten. Die wenigen Male die sie miteinander schliefen waren
unerträglich. Ängstlich huschten ihre Augen über sein Gesicht, ihr
Feenkörper versteifte sich und später lag sie zitternd und weinend
in seinen Armen. Sie fiel und er konnte sie nicht halten. Das Tier
war gefangen, aber die Dämonen hatten sie verfolgt.
Der Exorzist war ein Blumengroßhändler und statt eines
Rosenkranzes, brachte er drei Paletten verkümmerter
Gardeniensetzlinge. Sie verbrachte ihre Tage im Gewächshaus, zählte
die Pflanzentriebe wie eine Mutter die Finger und Zehen ihres
Neugeborenen. Einige spezielle Sorgenkinder platzierte sie auf den
Fensterbänken der Wohnung. Anfangs beunruhige ihn ihr Eifer, er
versuchte sich in der Analyse und gab es schließlich auf. Der Grund
war jenes Rot, das ihre Wangen färbte, wenn sie abends von ihren
Pflanzen sprach. Der Grund war ihr tiefer ruhiger Schlaf, die
Erschöpfung, die Albträumen keinen Raum ließ und das Flüstern,
dass sie leben wolle.
Der April zog ungewohnt mild ins Land, ließ Verkümmertes wachsen
und weckte ihn eines Morgens mit einem schwachen, betörenden Geruch,
der ihn auch den restlichen Tag über nicht verließ. Es war dieser
Geruch, der ihn am frühen Abend dazu brachte sie entgegen seiner
Gewohnheit von der Arbeit abzuholen. Der Laden war bereits
geschlossen und er betrat das Gewächshaus wo ihn die Sinneseindrücke
überwältigten.
Subtropisch schlug es ihm entgegen, der
vertraute Duft um ein vielfaches verstärkt, unterlegt von Tönen,
die ihn verschwommen an den Musikunterricht erinnerten. “Sie spielt
ihnen Delibes vor, natürlich.” Das Lächeln, das diesem Gedanken
folgen wollte, entschied sich anders. Denn da war sie, die Augen
geschlossen, filigranes Muskelspiel, kein Tanz sondern eine so
hingebungsvolle Liebeserklärung an die Musik, dass er sich wie ein
Spanner fühlte. Aber keine Wut lag in ihrem Gesicht als sie ihn sah,
sondern etwas Fremdes, Anziehendes. Er hatte sie nur küssen wollen
und es war nicht so sehr die Tatsache, dass sie die Schürze von
ihrem Körper gleiten ließ oder die Entdeckung, dass sie darunter
nackt war, als ihr Blick, fest und fordernd, der mehr verlangte.
Später, als sie einander lächelnd die warme, klebrige Erde von den
erschöpften Körpern wischten und das zerwühlte Beet wieder glatt
harkten, kam die Angst.
Unbegründet. Der Sommer war üppig. Tag und Nacht wehte eine
sanfte Brise, trug den Duft der blühenden Gardenien in die Wohnung
und trocknete den Schweiß. Der Sommer klang nach ihrem überraschend
kehligen Lachen und schmeckte würzig. An jenem Nachmittag im
Gewächshaus hatte er geglaubt, Lust in ihren Augen zu sehen, aber es
war mehr. Maßloser Hunger und nichts vermochte ihn zu stillen. Eine
wilde Routine stellte sich ein. Abends kochte er opulente, scharfe
Gerichte, die sie gierig verschlang und dazu Rotwein trank. Sie
wuchs. Wenn sie sich liebten, schlangen sich muskulöse Beine um
seine Hüften, war es ein sinnlicher Körper, der dann erschöpft
über seinem zusammen sank. Im Dunkeln lagen sie nebeneinander,
gönnten ihren ausgelaugten Körpern Ruhe und flüsterten von der
Zukunft. Hin und wieder blickte er zu der Silhouette der Blüte, die
sich vor dem hellen Himmel der Stadt abzeichnete. Er war nicht eitel
genug, um sich für ihre Veränderung verantwortlich zu fühlen und
deshalb gönnte er ihren Pflanzen einen Teil der Leidenschaft.
Morgens stand sie vor ihm auf, richtete die Blumentöpfe neu aus und
fabrizierte im eigens dafür angeschafften Mörser ihre
Düngemischung. Er mochte das stumpf knirschende Geräusch, noch mehr
dessen Ende, denn es kündigte an, dass noch einmal ins Bett kam und
mit ihm schlief bevor sie in den Tag gingen, der nur geschaffen war,
um die Vorfreude auf das Wiedersehen zu steigern. Allein: der Wind
flaute ab.
Der September lag stickig über der Stadt, als ihm das erste Mal
auffiel, wie riesig die Pflanzen geworden waren. Er spürte leichten
Widerwillen, als er eines der ledrigen Blätter berührte. Der Geruch
war allgegenwärtig. Noch immer waren die Abende fröhlich, aber es
fiel ihm immer schwerer, sich auf ihre Erzählungen, auf überhaupt
etwas anderes als dieses schwere, süße Aroma zu konzentrieren.
Seine Lust auf sie ließ nach, aber das schien sie nicht zu stören.
Ruhig schlief sie neben ihm, während er wach lag und die Pflanzen so
lange anstarrte, bis sich die fleischigen Blüten vor seinen Augen
ins Monströse auswuchsen. Er bat sie, die Pflanzen aus der Wohnung
zu schaffen, sie weigerte sich und zum ersten Mal stritten sie
lautstark miteinander. Als er wütend und geschlagen das Haus
verließ, wünschte er sich für einen kurzen, schuldbewussten Moment
das zarte, gebrochene Wesen von einst herbei. Schon morgens
verursachte ihm der Gardeniengeruch Übelkeit bis zum Erbrechen,
schwefelgelb wie der Himmel vor einem Gewitter und höhnisch grinsten
die Blüten von der Fensterbank, während das Geräusch des Stößels
Löcher in seine Schädeldecke schlug.
Es ist kalt, aber besser als in der Wohnung, wo sie das Klima
feucht und warm hält. Er hat es sich angewöhnt, vor ihr aufzustehen
und dann in einem Café zu frühstücken. Nach der Uni besucht er oft
Freunde oder bleibt in der Bibliothek bis diese schließt. Eigentlich
ist er nur noch zum Schlafen zuhause und auch das wird sich ändern.
Es ist wieder wie früher. Es ist schlimmer als früher, denn jetzt
weiß er, wie es sein könnte, hat die bitter gewordene Erinnerung an
diesen unglaublichen Sommer. Ein Kommilitone hat angerufen und ihm
ein Zimmer angeboten. Deswegen kehrt er nun um anstatt zur Uni zu
fahren. Er will es gleich hinter sich bringen. Im Treppenhaus
empfängt ihn “Viens Mallika” in ohrenbetäubender Lautstärke
und er schiebt die schimpfende Vermieterin beiseite und stürmt,
immer drei Stufen auf einmal, nach oben denn noch lauter als die
Musik hört er Poltern und ihre Schreie. Die Wohnungstür ist nur
angelehnt und im Flur liegen Pflanzenteile zwischen Tonscherben und
Erdhaufen. Auf dem Tisch steht der Mörser und daneben liegt ein
kleines, irgendwie vertrautes Päckchen mit der Aufschrift “Diane”
und dann hält er inne denn da steht sie. Nackt, mit einem
Vorschlaghammer in der Hand und sein Blick fällt zuerst auf ihr
tränenüberströmtes Gesicht und dann auf ihren gewölbten Bauch.