Sonntag, 13. Januar 2013

Gratwanderer 2

 
 
Am Rand deines anderen Abgrunds.
Manche Fragen betteln darum, nicht beantwortet zu werden.

Ich traf Talla in der Silvesternacht. Mein Bruder Lex war wieder einmal im Krankenhaus und ich betrunken genug, um in einem jener Clubs zu landen, in die er mich als Teenager geschleift hatte. Irgendwann zu Beginn des neuen Jahrtausends hatte alles seinen Zauber verloren, die Langeweile war eingezogen und wurde seither zelebriert. Die Menschen tanzten mit gesenktem Blick in unsichtbaren Vierecken. Talla zwischen ihnen war ein Feuerwerkskörper im Moment der Explosion, funkelnde Euphorie. Als sich mein Gesicht merkwürdig anfühlte, spürte ich, dass ich unwillkürlich lächelte. Später sah ich sie in einer Gruppe Menschen, von denen ich einige flüchtig kannte. Selbsternannte Jungintellektuelle, die ihre Energien einzig in Selbstdarstellung und leere Diskussionen steckten, deren mangelnde Kompetenz und fehlender Ehrgeiz sich aber hübsch mit dem Geldbeutel der Parentalgeneration kompensieren ließen. Für einige von ihnen hatte ich Hausarbeiten geschrieben, als ich abgebrannt war und wäre Talla nicht unter ihnen gewesen, hätte ich einen großen Bogen um sie geschlagen. So aber wurden sie von der Pest zur Möglichkeit. Ich mischte mich unter sie und lauschte Talla, die mit klarer, die Musik übertönender Stimme eine schräge Geschichte erzählte. Während ich ihr zuhörte, ging mir auf, worin ihr Zauber lag. Begeisterung. Kindlich, vielleicht sogar naiv, aber ehrlich. Wir stürzten uns so hungrig darauf, eine Horde fahler Vampire angesichts einer rosigen Jungfrau.
Irgendwann am Nachmittag landeten sie und ich in meiner Wohnung. Ehrfürchtig betrachtete sie das Bild über dem Sofa. Lex hatte es nach einem Candyflip gemalt und es gab niemanden, der sich nicht irgendwie dazu äußerte. Talla tat mir den Gefallen und analysierte es nicht. Stattdessen erzählte sie von sich. Sie sprach mit der gefährlichen Offenherzigkeit der Betrunkenen, verschwommene Artikulation klarer Inhalte. Talla war auf der Flucht vor einem Leben, das, wie sie sagte, zu eng für sie geworden war. Ein Weg, den man vor ihr ausgebreitet hatte und dessen Grenzsteine sie wütend beiseite trat. Schwankend zeigte sie mir ihren Verlobungsring, bevor sie ihn mit einem weiteren Bier hinunter schluckte. Dann verfiel sie in hysterischen Ekel, bei der Vorstellung, ihn in ihrer Scheiße suchen zu müssen. Diesbezüglich hätte Talla sich keine Sorgen machen müssen, sie kotzte ihn zusammen mit ihrem restlichen Mageninhalt auf die Bodendielen.
Talla blieb zu meinem Erstaunen. Abgesehen von Lex und Judith hatte ich noch nie mit jemandem zusammen gewohnt. Ich betrachtete mich nicht als die Sorte Mensch, die dazu in der Lage wäre. Aber Talla war charmant und herzlich und folgte ihrem Freiheitsdrang so deutlich, dass ich glaubte, sie würde das auch mir zugestehen.
Dass sie einen Großteil der Miete zahlte, gab ihr das Recht, meine Wohnung nach ihren Wünschen zu nutzen und zu meinem Entsetzen füllte Talla sie mit unseren gemeinsamen Bekannten und veranstaltete merkwürdige Lesungen. Dunkle Gestalten lasen vor einer Menge, die ihre Begeisterung in größtmöglichem Desinteresse ausdrückte und die Texte anschließend bis zum letzten Graphem diskutieren wollte. Die Kunst erstickte unter Trivialstem und ich versteckte mich in der Küche. An einem jener Abende, als die Wohnung von Zigarettenrauch und leerem Gerede erfüllt war, lockte mich die Stimme eines Mannes aus dem Exil. Er las Texte über Wandel, Verfall und Verlust und je länger ich ihm zuhörte, umso wütender wurde ich. Dass seinem Vortrag der übliche gelangweilte Ton fehlte, hatte mich angezogen, aber der Schmerz darin widerte mich an. Er war so übertrieben und laut, dass er nicht real sein konnte. An diesem Abend trank ich weit über mein übliches Maß hinaus und als der Mann zu Ende gelesen hatte, warf ich all meine Prinzipien über Bord und ließ mich auf ein Gespräch mit ihm ein. Talla beobachte, wie unsere Unterhaltung an Intensität gewann. Zuerst erfreut, dann alarmiert. Ihr letzter Blick, als ich meine Faust in sein Gesicht schlug, enthielt Angst. Schmerz. Diese Menschen sehnten sich danach, saßen dem Irrglauben auf, dass er der einzige Schlüssel zu Authentizität sei, weil sie ihn nie kennen gelernt hatten. Sie beugten ihre Rücken einem imaginären Sturm, ohne jemals Wind im Haar gespürt zu haben. Und Talla war eine von ihnen. Sie überhäufte mich mit Tränen und Vorwürfen, die ich mir regungslos anhörte. Als sie endlich verstummte, fragte ich sie, ob sie nicht genau deswegen bei mir war. Eine Antwort erhielt ich nie.
Talla begann zu spielen. Statt nach dem Menschen zu suchen, der sie tatsächlich war, verschwendete sie ihre Energie darauf, den Menschen darzustellen, der sie gern sein wollte. Aber ihre Fassade war rissig, alte Gewohnheiten strapazierten sie. Talla war nicht so frei, wie sie gerne vorgab. Der Wunsch zu besitzen trieb sie und die Tatsache, dass ich Geheimnisse vor ihr hatte, machte sie ebenso rasend, wie die, dass mich die ihren nicht interessierten. Während sie abends allein unterwegs war und düsteren Abenteuer hinterher jagte, spannte sie tagsüber versteckte Sicherungsseile. Ich tolerierte das bis zu dem Tag, an dem sie entgegen meiner ausdrücklichen Bitte in Lex' Sachen wühlte. Sie saß am Küchentisch, seine gekritzelten Stammbäume und Landkarten vor sich ausgebreitet, und verfolgte Lex' Kugelschreiberlinien, die sich wie die Flugrouten verwirrter Zugvögel über Europa erstreckten. Sie in den privaten Unterlagen meines Bruders wühlen zu sehen, Neugier und Sensationsgeilheit im Blick, tat mir mehr weh als ihr Vertrauensbruch an sich. Ich wurde ausfallend, sie schlug zu und ich zurück. Es dauerte über eine Woche, bis der Abdruck ihres Rings aus meinem Gesicht verschwunden war und noch länger, bis ich mit ihr reden konnte, ohne dass Hass aus meiner Stimme quoll.
Es gab gute Zeiten. Jener Sonntagnachmittag, nicht lange nach unserem heftigen Streit gehörte dazu. Der Frühling war jung und zurückhaltend und wir lagen im Park, um die ersten Sonnenstrahlen zu genießen. Talla hatte mich nicht mehr auf Lex angesprochen, aber als sie es jetzt tat, überraschte ich uns beide, indem ich ihr von meinem Bruder erzählte. Von Krankheit und Rückfällen. Von Hoffnung, Suchen und Enttäuschungen. Irgendwann schimmerten ihre Augen. Wenn ich Talla jemals geliebt hatte, dann in jenem Moment. Als sie meine Tränen vergoss.
Briefe landeten in meinem Briefkasten. Weiße Kuverts auf denen in schöner, geschwungener Handschrift ein fremder Name geschrieben war. Dass ihr ehemaliger Verlobter weiterhin um sie kämpfte, erfüllte Talla mit widerwärtiger Selbstzufriedenheit. Sie trug seinen Schmerz wie eine Krone und als das Leid in seinen Briefen der Klärung von Formalitäten wich, kränkte es Talla. Oder Chantal. Sie mochte es, mit der Wirklichkeit zu spielen, sie zu kürzen oder zu erweitern, bis sie ihren Vorstellungen entsprach. Ich mochte es, an ihrer Fassade zu kratzen, bis Blut floss.
Es gab unzählige Zusammenstöße, aber nicht den großen Knall. Eiertänze um Nichtiges, unausgesprochene Sehnsüchte, die sich in Missmut Luft machten. Talla war verreist, als ich bemerkte, dass ich in ihrer Abwesenheit atmete. Ich kündigte die Wohnung, packte meine Sachen und verschwand. Ich sah sie nie wieder.
Die Flasche ist leer und der Tag der Nacht gewichen. Nils ließ mich reden, hörte geduldig zu und unterbrach mich nur selten. Ich bin müde und leer. Vielleicht sollte ich Reue zeigen, aber ich finde sie nirgends. Vielleicht hatte mir Talla irgendwann den Auftrag erteilt, ihre Hand zu halten, während sie am Abgrund balancierte, aber ich hatte nie zugegriffen. Vielleicht hätte ich sie von dem Leben, das sie sich so wünschte abhalten sollen. Aber das hatte ich nie als meine Aufgabe betrachtet.
Manchmal betteln Menschen darum, belogen zu werden. Aber für Bitten bin ich taub.
.
Teil 1
Teil 3