Ich könnte diese Gänge schlafend
durchqueren, denn sie beherbergen meine Träume. Hier laufen alle
Linien zusammen und treffen einander in der Unausweichlichkeit.
Finsternis an beiden Enden und ich entscheide mich für die kalte
Variante. Judith steht vor der Eingangstür und raucht. Alles an ihr
ist klar, ihre dunklen Augen, ihre Züge, ihre Worte. Sie hat den
üblichen Panzer abgelegt, ihre Stimme ist leise und bittend, aber
jetzt bin ich taub für Erklärungen. Als sie die Hand an meine Wange
hebt, weiche ich ihr aus. Viele Jahre lang haben wir Rücken an
Rücken gekämpft, aber in dieser Nacht bin ich wieder zehn Jahre alt
und Judith meine erbitterte Feindin. Mühsam löse ich meinen Blick
von ihrem schmalen Hals, meine Gedanken von der Idee, sie zu packen
und ihren Kopf solange gegen die Wand zu schlagen, bis die klare
dunkle Stimme verstummt. Stattdessen murmele ich einsichtig
Klingendes und verschwinde.
Es ist kälter als erwartet und
Menschen, die zu dumm oder zu betrunken sind, die Uhr zu lesen,
schicken erste Raketen in den mondlosen Himmel. Kurz bin ich geneigt,
nach Hause zu fahren, aber trotz meiner Wut wiegt das Versprechen,
das ich Lex gegeben habe, schwer. Heute Nacht nicht allein zu sein.
Allein kann zu zweit bedeuten, jedoch niemals zu dritt.
Als ich im vierten Stock ankomme, ist
die Kälte auf meiner Haut einem unangenehmen Kribbeln gewichen. Die
Tür ist nur angelehnt und als ich sie öffne, schlägt mir der Lärm
ebenso entgegen wie der Geruch nach schlechtem Essen und zu vielen
Menschen. Mir geht auf, dass das keine gute Idee war und ich
verschwinden sollte, aber der Flur ist voller Menschen, manche
Gesichter vage bekannt und eine Frau kommt auf mich zu, umarmt mich
und zieht mich hinein.
Der Versuch, mich zulaufen zu lassen
ohne dabei ernsthaft Konversation betreiben zu müssen, erweist sich
als schwierig. Weit mehr Menschen, als ich hier zu kennen glaubte,
scheinen informiert und fühlen sich verpflichtet, nachzufragen, was
mein Bruder macht. Es dauert etwa eine Stunde, bis ich heraus habe,
dass die Antwort „Sterben.“ das Gegenüber nicht nur zum
Schweigen bringt, sondern mich auch für den restlichen Abend, wenn
es gut läuft vielleicht sogar für mein restliches Leben, als
Gesprächspartner disqualifiziert. Im Flur suchen sie Mitspieler für
eine Runde Flunkyball und ich schließe mich an. Es gibt Schlimmeres,
als Saufspiele und Albernheit. Es gibt Gespräche.
Die Nachtluft ist schneidend kalt, aber
nicht erfrischend. Sie ist bereits trüb und stinkt nach
Schwarzpulver, obwohl bis Mitternacht noch Zeit ist. Um mich herum
positionieren sie leere Weinflaschen, jemand will mir eine Rakete in
die Hand drücken, aber ich lehne ab. Ich mag kein Feuerwerk. Es
liegt nicht an der traditionell verurteilten Verschwendung oder der
moderner beklagten Feinstaubfreisetzung, sondern an dem Knallen.
Arrhythmisch und dumpf, weit ab vom Herzschlag und auf unangenehme
Weise aufputschend. Die andere Sache die mich an Silvester stört ist
die um sich greifende Traurigkeit. Pathetisch, nostalgisch und vor
allem eitel, der eigenen Vergänglichkeit bewusst werdend, gleicht
sie der Melancholie an Geburtstagen, nur dass sie zum Jahreswechsel
bei unzähligen Menschen gleichzeitig auftritt. Auch ich bin nicht in
der Lage, mich dem zu entziehen, wobei meine eigene Sterblichkeit
eher eine untergeordnete Rolle spielt. Ob sie am Fenster sitzend auf
das große Geballer warten? Als wir noch Kinder waren und ich mich,
von den Silvesterpartys unserer Eltern flüchtend, überwältigt von
Licht und Lärm unter meinem Bett verkroch, war es Lex, der mich fand
und dann das Feuerwerk mit mir zusammen ansah. Vielleicht verpassen
sie es aber auch und schlafen Bereits. Lex müde von der Chemie, die
in seinem Körper zirkuliert, Judith von der Erschöpfung der letzten
Wochen, Beide erschlagen von der hilflosen Traurigkeit die das Wort
„letzte“ nun jeder Situation aufzwingt.
Ihr Name ist Lana und sie möchte, dass
ich ihre Hand halte, während sie auf der Brüstung der Ufermauer
balanciert. An ihrer linken Seite geht es gute fünfzehn Meter nach
unten, wo ein schmaler Betonweg am Wasser entlang führt. Als man
herunter gezählt hatte und die Welt ihren Abschiedsschmerz gegen
ekstatische Freude über den Neubeginn tauschte, stand sie plötzlich
vor mir und küsste mich. Silvesterfrauen bringen Unglück. Silvester
brachte mir Talla, Talla brachte mir Nils und Nils brachte mir eine
Wunde bei, die noch immer schmerzt. Ich sollte entweder gehen oder
sie gleich selbst hinunter stürzen, aber der Gedanke, dass man bei
der Obduktion ihrer zerschmetterten Leiche meinen Speichel auf ihren
Lippen finden könnte, behagt mir nicht. Lana balanciert, hüpft und
plappert vor sich hin. Am Ende der Brüstung bleibt sie stehen und
verharrt in einer wackeligen Turnerpose, bis ich einen Applaus
andeute. Dann hakt sie sich bei mir ein. Sie ist groß und dünn und
hält den Kopf so, dass ihre Schlüsselbeine auffällig hervor
treten. Als sie bemerkt, dass ich sie mustere, zieht sie die
Schultern nach oben und reibt ihre Hände aneinander. Sie flüstert
etwas von Gentleman, aber das bin ich nicht.
Während Lana Wein aus der Küche holt,
betrachte ich ihr Zimmer. Photos in selbst gebastelten Rahmen,
Kerzen, eine große Teetasse mit Marienkäfermotiv. Ein
Kleiderhaufen, gerade groß genug, um das putzige Chaos im Inneren
seiner Verursacherin zu spiegeln. Dazwischen mehr Blumiges,
Fruchtiges, Gestreiftes. Lana trinkt kaum, stattdessen spielen ihre
schmalen Finger mit dem Glas. Ich würde ihre Verletzlichkeit
ansprechen und sie ihr herunter reißen um die verborgene Stärke zu
entdecken, ganz so wie sie es möchte. Aber ich würde weiter gehen,
ihre zweite und dritte Haut abschälen und sie dann vor den großen,
weißgerahmnten Spiegel zerren, bis sie sich selbst in ihrer ganzen
kindischen Eitelkeit und Schwäche gegenüber steht. Letztlich fehlt
mir die Energie und nicht auf ihre Selbstinszenierung einzugehen,
verschafft mir ein Stück weit Befriedigung. Ich entschuldige mich
und verschwinde im Badezimmer. Über der Toilette hängt ein Poster
mit der Aufschrift „Tritt näher heran, er ist kürzer, als du
denkst!“. Ich folge der Aufforderung und pinkele gegen den
Klodeckel, bis sich die Bodenmatte voll gesaugt hat. Meine Jacke
hängt im Flur und ich streife sie ebenso leise über, wie ich die
Wohnungstür schließe.
Noch immer liegt der Pulvergeruch in
der Luft und die fahle Wintersonne beleuchtet verdreckte, dunstige
Straßen. Judith steht an der gleichen Stelle wie gestern Nacht und
dieses Mal lasse ich ihre Berührung zu. Nur noch ein paar Tage.