Freitag, 27. September 2013

Gratwanderer 4






Ich könnte diese Gänge schlafend durchqueren, denn sie beherbergen meine Träume. Hier laufen alle Linien zusammen und treffen einander in der Unausweichlichkeit. Finsternis an beiden Enden und ich entscheide mich für die kalte Variante. Judith steht vor der Eingangstür und raucht. Alles an ihr ist klar, ihre dunklen Augen, ihre Züge, ihre Worte. Sie hat den üblichen Panzer abgelegt, ihre Stimme ist leise und bittend, aber jetzt bin ich taub für Erklärungen. Als sie die Hand an meine Wange hebt, weiche ich ihr aus. Viele Jahre lang haben wir Rücken an Rücken gekämpft, aber in dieser Nacht bin ich wieder zehn Jahre alt und Judith meine erbitterte Feindin. Mühsam löse ich meinen Blick von ihrem schmalen Hals, meine Gedanken von der Idee, sie zu packen und ihren Kopf solange gegen die Wand zu schlagen, bis die klare dunkle Stimme verstummt. Stattdessen murmele ich einsichtig Klingendes und verschwinde.

Es ist kälter als erwartet und Menschen, die zu dumm oder zu betrunken sind, die Uhr zu lesen, schicken erste Raketen in den mondlosen Himmel. Kurz bin ich geneigt, nach Hause zu fahren, aber trotz meiner Wut wiegt das Versprechen, das ich Lex gegeben habe, schwer. Heute Nacht nicht allein zu sein. Allein kann zu zweit bedeuten, jedoch niemals zu dritt.

Als ich im vierten Stock ankomme, ist die Kälte auf meiner Haut einem unangenehmen Kribbeln gewichen. Die Tür ist nur angelehnt und als ich sie öffne, schlägt mir der Lärm ebenso entgegen wie der Geruch nach schlechtem Essen und zu vielen Menschen. Mir geht auf, dass das keine gute Idee war und ich verschwinden sollte, aber der Flur ist voller Menschen, manche Gesichter vage bekannt und eine Frau kommt auf mich zu, umarmt mich und zieht mich hinein.

Der Versuch, mich zulaufen zu lassen ohne dabei ernsthaft Konversation betreiben zu müssen, erweist sich als schwierig. Weit mehr Menschen, als ich hier zu kennen glaubte, scheinen informiert und fühlen sich verpflichtet, nachzufragen, was mein Bruder macht. Es dauert etwa eine Stunde, bis ich heraus habe, dass die Antwort „Sterben.“ das Gegenüber nicht nur zum Schweigen bringt, sondern mich auch für den restlichen Abend, wenn es gut läuft vielleicht sogar für mein restliches Leben, als Gesprächspartner disqualifiziert. Im Flur suchen sie Mitspieler für eine Runde Flunkyball und ich schließe mich an. Es gibt Schlimmeres, als Saufspiele und Albernheit. Es gibt Gespräche.

Die Nachtluft ist schneidend kalt, aber nicht erfrischend. Sie ist bereits trüb und stinkt nach Schwarzpulver, obwohl bis Mitternacht noch Zeit ist. Um mich herum positionieren sie leere Weinflaschen, jemand will mir eine Rakete in die Hand drücken, aber ich lehne ab. Ich mag kein Feuerwerk. Es liegt nicht an der traditionell verurteilten Verschwendung oder der moderner beklagten Feinstaubfreisetzung, sondern an dem Knallen. Arrhythmisch und dumpf, weit ab vom Herzschlag und auf unangenehme Weise aufputschend. Die andere Sache die mich an Silvester stört ist die um sich greifende Traurigkeit. Pathetisch, nostalgisch und vor allem eitel, der eigenen Vergänglichkeit bewusst werdend, gleicht sie der Melancholie an Geburtstagen, nur dass sie zum Jahreswechsel bei unzähligen Menschen gleichzeitig auftritt. Auch ich bin nicht in der Lage, mich dem zu entziehen, wobei meine eigene Sterblichkeit eher eine untergeordnete Rolle spielt. Ob sie am Fenster sitzend auf das große Geballer warten? Als wir noch Kinder waren und ich mich, von den Silvesterpartys unserer Eltern flüchtend, überwältigt von Licht und Lärm unter meinem Bett verkroch, war es Lex, der mich fand und dann das Feuerwerk mit mir zusammen ansah. Vielleicht verpassen sie es aber auch und schlafen Bereits. Lex müde von der Chemie, die in seinem Körper zirkuliert, Judith von der Erschöpfung der letzten Wochen, Beide erschlagen von der hilflosen Traurigkeit die das Wort „letzte“ nun jeder Situation aufzwingt.

Ihr Name ist Lana und sie möchte, dass ich ihre Hand halte, während sie auf der Brüstung der Ufermauer balanciert. An ihrer linken Seite geht es gute fünfzehn Meter nach unten, wo ein schmaler Betonweg am Wasser entlang führt. Als man herunter gezählt hatte und die Welt ihren Abschiedsschmerz gegen ekstatische Freude über den Neubeginn tauschte, stand sie plötzlich vor mir und küsste mich. Silvesterfrauen bringen Unglück. Silvester brachte mir Talla, Talla brachte mir Nils und Nils brachte mir eine Wunde bei, die noch immer schmerzt. Ich sollte entweder gehen oder sie gleich selbst hinunter stürzen, aber der Gedanke, dass man bei der Obduktion ihrer zerschmetterten Leiche meinen Speichel auf ihren Lippen finden könnte, behagt mir nicht. Lana balanciert, hüpft und plappert vor sich hin. Am Ende der Brüstung bleibt sie stehen und verharrt in einer wackeligen Turnerpose, bis ich einen Applaus andeute. Dann hakt sie sich bei mir ein. Sie ist groß und dünn und hält den Kopf so, dass ihre Schlüsselbeine auffällig hervor treten. Als sie bemerkt, dass ich sie mustere, zieht sie die Schultern nach oben und reibt ihre Hände aneinander. Sie flüstert etwas von Gentleman, aber das bin ich nicht.

Während Lana Wein aus der Küche holt, betrachte ich ihr Zimmer. Photos in selbst gebastelten Rahmen, Kerzen, eine große Teetasse mit Marienkäfermotiv. Ein Kleiderhaufen, gerade groß genug, um das putzige Chaos im Inneren seiner Verursacherin zu spiegeln. Dazwischen mehr Blumiges, Fruchtiges, Gestreiftes. Lana trinkt kaum, stattdessen spielen ihre schmalen Finger mit dem Glas. Ich würde ihre Verletzlichkeit ansprechen und sie ihr herunter reißen um die verborgene Stärke zu entdecken, ganz so wie sie es möchte. Aber ich würde weiter gehen, ihre zweite und dritte Haut abschälen und sie dann vor den großen, weißgerahmnten Spiegel zerren, bis sie sich selbst in ihrer ganzen kindischen Eitelkeit und Schwäche gegenüber steht. Letztlich fehlt mir die Energie und nicht auf ihre Selbstinszenierung einzugehen, verschafft mir ein Stück weit Befriedigung. Ich entschuldige mich und verschwinde im Badezimmer. Über der Toilette hängt ein Poster mit der Aufschrift „Tritt näher heran, er ist kürzer, als du denkst!“. Ich folge der Aufforderung und pinkele gegen den Klodeckel, bis sich die Bodenmatte voll gesaugt hat. Meine Jacke hängt im Flur und ich streife sie ebenso leise über, wie ich die Wohnungstür schließe.

Noch immer liegt der Pulvergeruch in der Luft und die fahle Wintersonne beleuchtet verdreckte, dunstige Straßen. Judith steht an der gleichen Stelle wie gestern Nacht und dieses Mal lasse ich ihre Berührung zu. Nur noch ein paar Tage.