Mittwoch, 9. Januar 2013

Mentalisierung





Ich bin hier, weil ich zwischen einer Jugendstrafe und dem Scheiß wählen kann.“
Die anderen starren mich an. Opfer. Ich passe nicht in diese Runde. Die Zigarette wäre noch nicht nötig, aber das Verbotsschild ist zu verführerisch, um sich diese Gelegenheit entgehen zu lassen.


Du hast immer die Wahl. Erkenne deine Mitschuld und nimm sie an, oder begib dich in die Opferrolle und bleib’ darin für den Rest deines Lebens.

„Visualisiere deine Seele als Tier oder Fabelwesen. Wie fühlt sie sich? Wo sitzt sie? Und dann zeichne, was dir einfällt.“
Kindergarten, aber ich brauche meine Fleißkärtchen. Schwarz und Rot sind begehrt, also experimentiere ich mit Meerestönen.
„Tiamat also. Schön. Fliegt sie?“
Lächelnd hängt Claudia, die Therapeutin, mein Bild zwischen die anderen. Nataschas Welpe liegt zusammen gekauert in einem Körbchen. Lenes Spatz hat gebrochene Flügel mit blutigen Spitzen.
„Nein. Sie greift an.“


Sieh hin. Nur die Schwachen senken den Blick.

Die Begegnung ist unerwartet und schrecklich. Seit zwei Jahren gehen der Körper und ich einander aus dem Weg, außer wenn ich ihn für seine Schwäche bestrafe. Jetzt stehen wir einander gegenüber. Nackt und anklagend streckt er mir messerscharf gezeichnete Knochen und Sehnen entgegen. Der Spiegel splittert nach dem zweiten Schlag und dankbar nimmt die Haut die Scherben an.

Auf dem Boden hat Claudia Gegenstände ausgebreitet. Jeder soll sich etwas aussuchen und beschreiben, was er damit tun will. Natascha schneidet mit der Schere in die Luft.
„Ich mache die Welt ein Stück besser.“
Stille. Dann kichert jemand, eine zweite fällt ein, bis wir uns laut lachend die Tränen aus den Augen wischen.

 
Du lachst? Wie kannst du es wagen?

Etappensieg. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten für den kosmetischen Eingriff. Claudia schenkt mir zur Feier des Tages eine teure Creme. Ratlos sitzen der Körper und ich einander gegenüber, wir haben den normalen Umgang verlernt. Aber das Zeug riecht gut, zitronig und sauber, und es fühlt sich angenehm an auf der Haut. Fast schön. Und fast könnte ich mich selbst in diesem Moment schön fühlen und die Augen schließen. Entspannen. Nicht nachdenken und dem Körper soweit vertrauen, um ihm die Kontrolle zu überlassen. Sanft und schnell bewegen sich meine Finger und ich bin kurz davor, fallen zu können, als sich die altbekannten Gesichter geifernd und grinsend dazwischen drängen.

„Das sieht ja böse aus.“ Die Krankenschwester, die mich auf die Operation vorbereitet, betrachtet meine Brüste. „Wie ist das denn passiert?“ Vielleicht ist es die Unsicherheit, einem fremden Menschen nackt gegenüber zu stehen, die mich dazu bringt, die Wahrheit zu sagen. Vielleicht ist es auch ihr sachlicher Tonfall, frei von falscher Anteilnahme oder aufrichtiger Sensationsgeilheit.
„Man hat Zigaretten auf mir ausgedrückt.“
Sie hebt nicht einmal die Augenbrauen, sondern nickt, um dann mit ihren Erklärungen fort zu fahren. Die erhabenen Wuchernarben werden abgetragen. Wenn ich Glück habe, wird man sie später kaum mehr sehen oder spüren können. Ich wünsche, ich könnte meine Seele mit operieren lassen.


Zerrissen, zerstört, disqualifiziert. Frannie loses a fight. Sprich von Tieren, von den Wölfen, den Monstern.

Metaphern gibt es nicht, nur Euphemismen, also lasse ich sie weg. Es gibt nichts zu beschönigen.
„Als ich fünfzehn war, hatte ich einen Streit mit meinem damaligen Freund. Er war drei Jahre älter und der Meinung, ich hätte auf einer Party mit jemandem geflirtet. Ich tat seine Vorwürfe lachend ab. Am folgenden Samstagabend lud er mich in die Wohnung seines Bruders ein. Dort warteten neben dem Bruder noch drei Freunde. Sie haben mich von Samstagabend bis Sonntagmittag in
der Wohnung eingesperrt und missbraucht.“
Die Geschichte ist für niemanden hier neu. Es gibt Nuancen der erfahrenen Grausamkeit, Variationen von Schmerz und Demütigung, aber die Erfahrungen gleichen sich und das Mitgefühl ist echt.


„Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Süße.“
Im Dunkeln lehnt er den Kopf an meine Schulter. Heiß und neu pocht die Tätowierung unter der Frischhaltefolie.
„Es langt nicht, oder?“
Seine Arme liegen stark und falsch um meinen Körper. Mit einer Bewegung könnte er mich zerbrechen und der Gedanke beunruhigt mich nicht. Aber er hat Recht.
„Ja. Es langt nicht.“
Wir verharren in dieser Position, bis es hell wird. Die letzte Nacht. Mein 18. Geburtstag.


Steh auf und wisch’ dir den Rotz aus dem Gesicht!

Der Club ist überfüllt und die Luft heiß und verraucht. Der Geruchssinn schlägt Alarm, Patchouli, zäh und klebrig, und dann steht er vor mir. Das hier ist meine Stadt und trotzdem behält er die Fassung, während meine Beherrschung in die Knie geht. Seine blauen Augen sind nicht so böse und sein Grinsen nicht so wölfisch, wie ich es mir eingeredet habe, aber beim Klang seiner Stimme geben meine Beine nach. Ich kippe nach hinten, meine Muskeln wollen verspätet und panisch zuckend dem Fluchtinstinkt folgen und ich schütte mir mein Getränk über. Vodka mit Kirschsaft klebt auf meinem T-Shirt und er beugt sich zu mir, während die ignoranten Wichser an uns vorbei gehen, als wäre nichts.
„Siehst gut aus, Kleines. Wenn du nicht so besoffen wärst, würd’ ich dich mit nehmen.“
Grinsend dreht er sich weg und geht. Ich habe mich gerade noch so weit unter Kontrolle, um den Kopf zur Seite zu drehen und an meinen Knien vorbei auf den Boden zu kotzen.


Als ich die kleine Kneipe betrete, empfängt mich Applaus. Mit Claudia und ein paar der Mädchen habe ich noch losen Kontakt, aber zum jährlichen Stammtisch schafft es jede. Offenbar hat sich die Verurteilung herum gesprochen. Mein rasender Zorn über das geringe Strafmaß, die Angst wegen der anonymen Anrufe und Drohungen, alles löst sich auf, als Lene mir einen Trinkspruch ausspricht. Zum ersten Mal gewinne ich und lasse mich feiern.

Du wirst uns nicht so einfach vergessen!

Handypiepsen. Dann ein Rütteln an der Schulter und eine vage bekannte Stimme.
„Steh’ auf! Du musst verschwinden.“
Während ich langsam zu mir komme, springt er im Schlafzimmer herum und sammelt die leeren Kondomverpackungen auf.
„Mach schon. Meine Freundin kommt früher nach Hause.“
Müde steige ich aus dem Bett. Als ich meine Kleider zusammen suche, begegnet mir mein Blick an der Spiegeltür seines Kleiderschranks. Im Hintergrund wird der Gespiele immer hektischer.
„Was grinst du denn? Bist du dumm oder so? Beeil’ dich, verdammt!“
Nein, ich bin nicht dumm. Auf dem Heimweg wirbeln die Gedanken durch meinen Kopf.
So ein dämlicher Sportficker sucht auf dem Weg Zum Reihenhaus nochmal einen kleinen Abstecher ins Verruchte und du leistest Hilfestellung. Musste das? Billig war es, triebhaft, geil. Ich betrachte mich in einer Schaufensterscheibe. Müde, verkatert und schön. Ja, das musste.


Tätowiernadeln sirren angenehmer als Zahnarztbohrer. Drei Stunden dauert es, bis Ayse fertig ist. Dann bewundern wir gemeinsam ihr Werk.
„Sieht gefährlich aus.“
Ich grinse.
„Ist sie aber nicht. Sie fliegt nur.“




Seine Jacke hängt noch immer an der Garderobe. Es wird Zeit, sie zu den restlichen Sachen zu packen und sie ihm zu schicken. Draußen hält der Herbst Einzug und als ich die Kneipe betrete glüht mein Gesicht. Wir sehen uns nur noch zum Stammtisch. Das Leben hat uns im Griff und die Zeit ist zu knapp für mehr als sporadische Verabredungen und losen Kontakt. Vielleicht ist es jetzt, elf Jahre nach unserer ersten gemeinsamen Sitzung, auch Zeit, die Dinge ruhen zu lassen. Trotz allem freue ich mich auf das Wiedersehen, aber das gewohnte Stimmengewirr aus dem Nebenraum bleibt aus. Die Gesichter wirken alt und müde. Die Nachricht von Lenes Selbstmord ist ein Schlag in den Magen.
Wir gehen niemals ganz.