Dienstag, 18. Oktober 2016

Anderer Mütter Fische

Jesse kommt, als ich keine Hoffnung mehr in das Türklingeln setze. Sein Blick streift die verschlossenen Flaschen, Opfergaben aus den Händen der wenigen Freunde, die ich ertragen konnte. Gutgemeintes aus aller Welt und zugleich ein geschicktes Umgehen der Frage nach einer angemessenen Begrüßung. Jesses Hände sind leer und er fällt mir um den Hals. Vielleicht kennt er die Regeln nicht, wahrscheinlicher aber, dass er sie ignoriert, denn dazu wurde er geboren.
Sollen wir über anderer Mütter Töchter reden? Fische im Meer, alte Fesseln und neue Freiheit oder hast du den Quatsch schon durch?“
Ohne zu verstummen, beäugt er einige Flaschen, und verzieht anerkennend das Gesicht. Ich nicke ihm zu, soll er sie haben. Das hier ist zu groß, um es zu ersäufen und letztlich lauert am Boden jedes Glases Selbstmitleid. Jesse sammelt ein paar der Flaschen ein, dann steht er vor mir, mustert mein Gesicht und ich frage mich ob er sehen kann, wie dünn meine Haut geworden ist und dass er aufpassen muss.
Du siehst scheiße aus. Lass’ uns abhauen.“
Wohin?“
Sei nicht blöd.“
Das Meer also.

Seit Ihrem Weggang ist die Wohnung gewachsen. Neue, düstere Orte sind hinzugekommen, Leerstellen und Schreine, die gleichsam erbarmungslos an sie erinnern. Eine handvoll Dosen und Päckchen hat sie im Spiegelschrank zurückgelassen. Orange gegen Schmerzen, Blau für den Schlaf, Weiß zum Lächeln. Mein Selbstbewusstsein, ein räudiger Köter, durchwühlt ihre Motive nach vergifteten Leckerchen. Das Ich ist geschrumpft, kneift und schneidet in das Fleisch des müden Tieres. Kurze Nächte haben mich müde gemacht, die leere Bettseite ist ein Abgrund und Träume gefährlich. Ich stecke die blaue Packung in meine Jackentasche.

Aus den Lautsprechern dringt unfassbarer Lärm. HATE. FUCK. DIE. Klingt nicht gesund, würde aber vielleicht ein paar Dinge vereinfachen. Jesse singt und klopft mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. Sein Haar ist wirr und Kajalreste haben sich klumpig unter seinen Augen gesammelt. Die Unbekümmertheit reizt mich zuverlässig, erinnert mich an das, was mir fehlt, was ihr an mir fehlte. Wild und rebellisch hätte ich sie vielleicht halten können. Wild und rebellisch wünschte mich auch meine Mutter, aber das war später. Anfangs stand ich ihr besser, wenn ich unauffällig war. Ansonsten hätte ich sie wahlweise alt gemacht oder ihren Fehlern ein Gesicht verliehen. Meinen Namen, so gestand sie mir irgendwann, hatte sie auf der Wöchnerinnenstation aufgeschnappt, wo sie, von glücklicheren Müttern interessiert beäugt, ihren neu erworbenen Mühlstein durch die Gänge geschleppt hatte. Einen angepassten, oft vergebenen Namen mit Diminutivpotenzial, das vor Ausrufezeichen brach lag. In ihren Zweitgeborenen setzte sie andere Hoffnungen und wurde nie enttäuscht. Jesse. Rebell, Dissident, Traumhändler.

Er dreht das Geplärr leise und fragt mich nach dem Ende. Vor nicht allzu langer Zeit hatte das Wort einen romantischen Beiklang. Zwei Schläfen, zwei Abzüge, ihr entschlossenes Lächeln an meiner Wange, während die Flammen sterbender Welten sich näherfraßen. Stattdessen unerträgliche Profanität, Worte nur, nicht gezielt, aber sie trafen trotzdem. Lange hatte sie ihre Gedanken für sich behalten, beobachtet, abgewägt und alle Gefühle geschluckt. Als sie endlich bereit war, sie auszusprechen, waren sie längst abgekühlt. Wut, Enttäuschung und unerfüllte Ansprüche hatten sich in Argumente gewandelt, denen ich nichts entgegenzusetzen wusste.


Jesse hat die Musik ausgeschaltet, aber mehr als halbherziges Dösen ist nicht drin. Träume und Erinnerungen lauern auch dicht unter Oberfläche des Bewusstseins und ich finde keine Entspannung. Als ich aufgebe, dunkelt es bereits, dennoch sind die vor dem Seitenfenster vorbeiziehenden Konturen vage vertraut. Die Straße ist neu, begradigt und von wohlerzogenen Bäumen zur Allee geadelt. Ihre Vorgängerin war unerbittlich, eine blutgierige Schlange gesäumt von wildem Wald. Es verging kaum ein Monat, in dem sie nicht ein Leben nahm. Weiße Kreuze kündeten von ihrem Blutdurst und obwohl mir manche der Namen vertraut genug sind, um mir das Wasser in die Augen zu treiben, bot sie mir Trost. Ian, Kurt, Jim, die Stimmen der Todgeweihten aus dem Kassettendeck, vor mir die Finsternis und im Hinterkopf den Gedanken, dass eine einzige schnelle Bewegung des Lenkrads im Notfall alles beenden konnten, waren genug, um den Kopf wieder frei zu kriegen. Heute ist Sprit teurer und Trost unbezahlbar.

Schweigend erreichen wir den menschenleeren Parkplatz. Hinter den Dünen liegt das Meer. Jesse murmelt vor sich hin, aber ich höre nicht zu. Auf der unvollkommenen Wasserfläche spiegelt sich der Vollmond weiß und hart. Wir sollten ihn anheulen, verlassene Geschöpfe die wir sind. Nur die Starken ertragen bedingungslose Gottlosigkeit, der Rest heuchelt und beugt das Haupt vor gefährlichen Götzen. Wie zum Beweis lässt Jesse sich in den Sand fallen und zieht eine der mitgebrachten Flaschen aus dem Rucksack. Stolichnaya, ungekühlt, aber so mild, dass es nichts ausmacht.

Die Flasche leert sich schnell und lockert meine Zunge. Szenen fügen sich zu Geschichten, die Vergangenheit wird schmerzlich greifbar. Es war nie perfekt, aber wenn ich es uns einrede, tut es mehr weh und ich stecke sowieso schon so tief in der Scheiße, dass ich auch gleich darin baden kann. Ich rede gierig, zimmere ihr einen Altar aus feinem Sand und forme darauf ihr Bild in all seiner erbarmungslosen Schönheit. Jesse hört zu bis die Worte versiegen.
Lass sie los.“
Er steht auf und deutet in Richtung Meer.
Lass sie los? Wirklich?“
Ich lasse mich in den Sand fallen und lache.

Wann und wie ich loslasse, geht dich nichts an.“
Und das hier? Das geht mich auch nichts an?“
Jesse zieht etwas aus seiner Hosentasche und es dauert ein paar Sekunden, bis ich die Schlaftabletten erkenne. Weitere Sekunden in denen ich ebenso hektisch wie sinnlos meine Jacke danach abtaste, bis ich begreife, worauf er hinauswill. Held sein, einmal nur. Dumm, dass er nicht bedacht hat, dass ein Rollentausch immer beide Spieler betrifft und er es nicht erträgt, dass ich nun derjenige bin, der jegliche Vernunft sausen lässt. Ich lasse mich gehen, berausche mich an Kummer und Selbstmitleid und nicht weniger steht mir zu. Die Wunde ist tief, und noch bin ich nicht gewillt, sie heilen zu lassen, aber sie wird mich nicht töten. Noch bevor ich das Jesse erklären kann, holt er weit aus und schleudert die Packung ins Meer. Er blickt ihr nach, eine schwarze Silhouette vor dem weißen Mond und plötzlich weiß ich, warum wir hier sind.

Vielleicht liegt es an Jesses Überraschung, dass mein erster Schlag ihn von den Füßen holt, so oder so fühlt es sich gut an, und ich lege nach. Etwas Verkümmertes erhebt sich aus der Dunkelheit und schafft sich zornig Platz. Vorschläge und Ratschläge. Ich muss keine Waffen wählen, sie fallen mir zu. Unter mir krümmt sich Jesse, aber zu viele verpasste Gelegenheiten schieben jedes Mitleid zur Seite. Das Meerwasser frisst sich den Jeansstoff hinauf. Nasse Waden, nasse Schenkel, nasser Arsch. Ich schleife Jesse aus dem Wasser, lege meine Hand auf sein Gesicht und erhöhe den Druck. Befreiungsschläge
Was hältst du davon, Traumhändler?“
Er ist kein Held, so sehr er es heute auch sein wollte, aber was Schlägereien angeht, verfügt er über die größere Erfahrung. Seine Faust trifft unvermittelt, hart und präzise auf meinen Kiefer.
Nichts.“
Und so ist es.
Schwarz.

Pochender Schmerz weckt mich. Der Strand ist in warmes Orange getaucht, aber ich friere erbärmlich. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf von Jesses zusammengeknäulter Jacke und betaste meinen Kiefer. Jesse. Er sitzt direkt neben mir, die Schwellungen in seinem Gesicht sehen im sanften Morgenlicht bereits hässlich aus, aber als er sieht, dass ich wach bin, lächelt er. Hinter ihm erhebt sich eine filigrane Sandskulptur.
Ich lächele zurück.
Die dunklen Tage haben gerade erst begonnen.