Es dauert nicht lange, bis ich einen
Ort als Zuhause bezeichne. Jugendherbergen, Schullandheime,
Ferienhäuser und nun diese Waldhütte. Kerzen brennen hinter den
trüben Scheiben. Jennifer mag es, das Haus so zu beleuchten, warm
und heimelig, sie liebt den Gedanken, mir den Weg zu weisen und ich
lasse sie, obwohl die helle Exponiertheit mir nicht behagt. Ich hasse
die Unsicherheit meiner Schritte auf den letzten Metern, weil sich
meine Augen während des Heimwegs an die Finsternis gewöhnt haben
und das Licht blendet. Lieber sähe ich das Haus im Dunkel mit dem
dahinterliegenden Wald verschmelzen, aber das verschweige ich. Als
wir hier ankamen, war ich sicher, dass wir einander fortan rauer und
schonungsloser begegnen würden. Zusammengedrängt auf wenigen
Quadratmetern, eine einzige Tür, die man nur dann hinter sich
zuschlagen kann, wenn man zu kompromissloser Einsamkeit bereit ist.
Tatsächlich sind wir sanfter miteinander geworden, verträglich und
träge. Die Tage fordern uns, zähmen Temperamente und machen die
Nächte weich. Es ist zu kalt, um einander Raum zu lassen.
Die Tür lässt sich nicht abschließen,
aber wir verriegeln sie mit einem Vorhängeschloss. Es dauert, bis
Jen öffnet und obwohl ich so lange in der Kälte war, ziehen sich
diese Sekunden hin. Aber dann ist sie da, warme Haut, feuchter Atem
und der Geruch von Wacholder. Die Euphorie in ihrer Begrüßung ist
neu, gewachsen an Winter und Einöde. Meine Finger sind steif von der
Kälte und sie hilft mir aus den Stiefeln, befreit mich aus
Kleidungsschichten und flüstert Zärtliches. Immerhin haben wir seit
dem Sommer fließendes Wasser, sodass sie nicht mehr für jeden Eimer
zum Brunnen laufen muss. Die Wanne ist nicht mehr als ein metallener
Trog, aber ich weiß sie zu schätzen. Das warme Wasser entspannt die
erschöpften Muskeln und treibt die Kälte aus. Jens Hände gleiten
durch mein Haar, entfernen Späne und entwirren vom Harz verklebte
Strähnen. Die Unterwürfigkeit verunsichert mich, aber auch sie
gestehe ich ihr zu. Eine stumme, duldende Entschuldigung für die
Jahre in denen ich ihre Fürsorge mit grausamen Worten zurückgewiesen
habe. Im Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand
steckt ein Splitter, der spitz genug war, durch die Handschuhe zu
dringen. Jen entfernt ihn vorsichtig. Mit Infektionen ist hier
draußen nicht zu spaßen, ein Arztbesuch bedeutet eine zweistündige
Autofahrt. Als sie später Jod auf die Stelle tupft, schimpft sie
über die Arbeit. Sie hasst die Stunden, in denen ich fort bin und
die derbe Ausdrucksweise, welche ich nach einem Tag dort draußen nur
langsam wieder ablege und vor allem hasst sie es, dass die
Anstrengung meinen Körper hart und kantig macht. Ich mag diese
Arbeit und die Menschen, denen ich dort begegne. Rau und unerträglich
ehrlich. Außerdem sind wir auf das Geld angewiesen. Als wir hier
ankamen, entdeckte Jen den verwahrlosten Pflanzgarten und arbeitete
dort mit unbekannter Verbissenheit. Die Ernte war gut, aber noch
reicht sie nicht aus, um uns zu versorgen. Weitere Sommer werden
kommen müssen.
Zum Abendessen gibt es Reibekuchen mit
warmem Apfelmus. Die Gläser mit eingekochtem Obst stehen in dem
wackligen Küchenregal, noch mehr davon stapeln sich in dem kleinen
Kellerverschlag. Dazwischen Kartoffeln, Kräuter und getrocknete
Pilze. Wir waren zu unerfahren, um den Rest zu konservieren. Jen
entdeckte den Schimmel auf ihrem Tomatenchutney als ich im Wald war.
Als ich zurück kam, fand ich sie weinend zwischen zerschmetterten
Einmachgläsern. Ihr Anblick versetzte mich in Panik, im ersten
Moment hielt ich die rote Masse mit der sie beschmiert war für Blut.
Vielleicht packte ich sie zu hart, war zu ruppig, als ich die
Flüssigkeit beiseite wischte und ihre Arme nach vermeintlichen
Wunden absuchte. Sie schlug mir ins Gesicht, in den Augen eine
Mischung aus Wut und so elementarer Angst, dass ich mehr davon als
von der Wucht des Schlags zurücktaumelte. Sofort war sie bei mir,
streichelnd und schluchzend. Ich weiß nicht mehr, wie oft sie sich
in den folgenden Tagen entschuldigte. Für die Ohrfeige, das
verdorbene Essen und den Kontrollverlust. Ich nahm an, wieder und
wieder. Ich verstand Frust und Enttäuschung. Einzig für ihre Angst
vor mir bat sie nie um Verzeihung. Und ich vergab nicht, dass sie
ihn in mir gesehen hatte.
Viel habe ich nicht mitgenommen. Den
Schlafsack, der uns als Decke dient. Das Handy für Notfälle. Vom
Haus aus muss man einige Schritte gehen, um ein Netz zu finden, aber
wir schalten es nie an. Das schmale Etui, das die mittlerweile
stumpfen Jagdmesser meines Vaters enthielt. Dunkles Leder mit
goldenem Monogramm. Früher war es überall. A.P. Auf Badetüchern,
Tischfeuerzeugen, Servietten. Nachdem ich mit 16 auf einer Party
einen schlechten Trip erwischt hatte, zog ich mich Zuhause vor dem
Spiegel aus, getrieben von der Vorstellung, die elenden Buchstaben
auch auf meinem Körper zu finden. Tatsächlich hat er mich viel
tiefer markiert. Sein Stempel prangt auf meiner Seele. Hier könnte
ich ihn loswerden. Mich lange genug dem rauen Klima aussetzen, bis er
abblättert und verwittert wie das Monogramm auf dem Etui. Heute
liegen darin zwei Fotos. Ein Portrait meiner Mutter, um nicht zu
vergessen. Ein Bild ihres Grabes, um nie zu vergessen. Mein Leben in
einer Kiste, Jens daneben. Ich weiß nicht, was sie mitgenommen hat,
diese Kisten sind tabu und ich schiebe sie vorsichtig beiseite, um an
das Nähzeug zu gelangen. Während ich meine Socken stopfe, liest sie
aus einem der Bücher vor, die ihr Onkel hier gelassen hat. Die
Hütte ist geschaffen für ihre Stimme, klein genug, um davon
ausgefüllt zu werden. Vielleicht ist sie auch mit ihr gewachsen, hat
Resonanz und Volumen ihrem neuen Wesen angeglichen. In unserem alten
Haus klang sie dünn und brüchig. An jenem Abend, als er sie zum
ersten Mal mit nach Hause brachte, wollte sie mir vorlesen. Damals
war ich zehn Jahre alt und meine Mutter seit vier Monaten begraben.
Jen wusste nichts davon, arglos und großäugig war sie dem Monster
in seine Höhle gefolgt und versuchte, dort zu überleben. Ich war
ihr dabei keine große Hilfe, aber sie lernte schnell. Funktionieren
war wichtig.
Im Dunkeln gleitet Jens Hand zwischen
meine Beine. Das war nie mein Plan. Ich wollte, dass er das Haus
verlassen vorfindet, die Puppenstube geräumt. Mein Verlust allein
schien nicht genug, wenn ihm noch eine Marionette blieb. Das folgende
Gespräch mit Jen war das längste, das wir in all den Jahren des
Zusammenlebens führten. Ich war mir sicher, dass sie verstehen
würde. Naiv war sie, aber nicht ihrer Instinkte beraubt und sie
hatte längst begriffen, dass ihr Weg sie dorthin führen würde, wo
die Überreste meiner Mutter lagen. Jen überraschte mich nicht nur
mit ihrer Zustimmung, sondern auch mit einem konkreten Plan und Ziel.
Ihre Entschlossenheit war so neu und fremd, dass ich erst in dem
Moment in dem ich das Auto vor der verlassenen Jagdhütte ihres
Onkels parkte realisierte, dass wir es tatsächlich durchgezogen
hatten. Anfangs redeten wir kaum miteinander. Aus Gewohnheit, aber
auch überwältigt von der neuen Freiheit und voller Angst, davor
dass der Andere zweifeln könnte. Mit der Zeit verlor unser Schweigen
die Befangenheit, wurde angenehm und vertraulich. Erst danach wurden
aus knappen Worten Gespräche und wir entdeckten neue Seiten
aneinander. Als ich Jens Geschick im Umgang mit den Pflanzen
bewunderte, erfuhr ich, dass sie gelernte Gärtnerin war. In unserem
früheren Leben hätte ich mir nicht vorstellen können, wie ihre
schmalen blassen Hände in der Erde wühlten. Hier draußen war es
anders. Das Land schliff uns, trug Schutzschichten ab und legte
unsere wahre Natur frei. Warm wich das Frühjahr dem Sommer. Ich fand
Arbeit bei den Holzfällern. Harte Arbeit, aber es gab Geld und
niemand stellte unangenehme Fragen. Die Tage wurden länger und der
Garten grün. Als ich eines Abends nach Hause kam, wässerte Jen ein
neu angelegtes Beet. Ihre Haare waren strähnig und feuchte Erde
klebte zuerst nur an ihren blassen Beinen, später überall. Danach
schlief ich nie wieder auf dem Boden. Jen ist geschickt, weiß die
Müdigkeit für einige Zeit aus meinen Knochen zu vertreiben. Ich
lerne, sie zu begehren, ficke nicht länger seine Frau sondern
schlafe mit Jen. Warm, weich und gut.
Später bleibt sie bei mir, legt ein
Bein um meine Hüfte und flüstert in mein Ohr. Ich schlafe schon
beinahe, aber auch mein Unterbewusstsein weiß, dass sich ihre
Aussagen irgendwann zu Fragen wandeln und eine Antwort erfordern
werden. Eine Entscheidung, die ich hinaus schiebe. Wir wurden in ein
gemeinsames Leben gezwungen. Gefunden haben wir einander erst hier
draußen in der warmen feuchten Erde. Ich weiß, wie rot ihr Haar im
Schein des Lagerfeuers leuchtet, wie sie nach einem Arbeitstag duftet
und wie das Flusswasser aus ihrem Bauchnabel schmeckt. Dennoch bleibt
die Angst, sie könnte eines Tages kapitulieren, schwach werden und
vor den Umständen in die Knie gehen. Ich schiebe den Gedanken mit
Jens Bedürfnissen beiseite, lasse mich einlullen von der Müdigkeit,
der Wärme und ihren Worten.
Ich erwache vom Knarren der Tür. Kurz
darauf wird es so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss.
Neben mir ist es kalt, Jens Körper fehlt und ebenso das Messer, das
eigentlich auf dem Fenstersims liegen sollte. Die Stimme ist bekannt,
gibt in kurzen Sätzen Anweisungen und dann zerren mich kräftige
Arme aus dem Bett. Er ist nicht allein gekommen. Tatsächlich sind
sie zu viert. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Sein
Gesicht ist kantig und ausdruckslos und doch spüre ich, wie seine
Wut den ganzen Raum füllt. Er hat mich nie angerührt und auch
heute tut er es nicht. Stattdessen nickt er knapp und einer seiner
Handlanger schlägt mir ins Gesicht. Mein Kopf fliegt zur Seite und
eine plötzliche unangenehme Hitze breitet sich von der linken Wange
aus über mein Gesicht aus. Keine Pause, dem ersten Schlag folgen
weitere. Mein Kopf dröhnt und bevor es um mich herum dunkel wird,
sehe ich Jen neben der Tür. Sie trägt ein fremdes, spitzenbesetztes
Nachthemd und hält das Messer mit dem Monogramm an ihre Brust
gepresst. Sie kapituliert nicht. Sie funktioniert. Prächtig.