Dienstag, 17. Februar 2015

Emain Ablach (vollständig)

Es dauert nicht lange, bis ich einen Ort als Zuhause bezeichne. Jugendherbergen, Schullandheime, Ferienhäuser und nun diese Waldhütte. Kerzen brennen hinter den trüben Scheiben. Jennifer mag es, das Haus so zu beleuchten, warm und heimelig, sie liebt den Gedanken, mir den Weg zu weisen und ich lasse sie, obwohl die helle Exponiertheit mir nicht behagt. Ich hasse die Unsicherheit meiner Schritte auf den letzten Metern, weil sich meine Augen während des Heimwegs an die Finsternis gewöhnt haben und das Licht blendet. Lieber sähe ich das Haus im Dunkel mit dem dahinterliegenden Wald verschmelzen, aber das verschweige ich. Als wir hier ankamen, war ich sicher, dass wir einander fortan rauer und schonungsloser begegnen würden. Zusammengedrängt auf wenigen Quadratmetern, eine einzige Tür, die man nur dann hinter sich zuschlagen kann, wenn man zu kompromissloser Einsamkeit bereit ist. Tatsächlich sind wir sanfter miteinander geworden, verträglich und träge. Die Tage fordern uns, zähmen Temperamente und machen die Nächte weich. Es ist zu kalt, um einander Raum zu lassen.

Die Tür lässt sich nicht abschließen, aber wir verriegeln sie mit einem Vorhängeschloss. Es dauert, bis Jen öffnet und obwohl ich so lange in der Kälte war, ziehen sich diese Sekunden hin. Aber dann ist sie da, warme Haut, feuchter Atem und der Geruch von Wacholder. Die Euphorie in ihrer Begrüßung ist neu, gewachsen an Winter und Einöde. Meine Finger sind steif von der Kälte und sie hilft mir aus den Stiefeln, befreit mich aus Kleidungsschichten und flüstert Zärtliches. Immerhin haben wir seit dem Sommer fließendes Wasser, sodass sie nicht mehr für jeden Eimer zum Brunnen laufen muss. Die Wanne ist nicht mehr als ein metallener Trog, aber ich weiß sie zu schätzen. Das warme Wasser entspannt die erschöpften Muskeln und treibt die Kälte aus. Jens Hände gleiten durch mein Haar, entfernen Späne und entwirren vom Harz verklebte Strähnen. Die Unterwürfigkeit verunsichert mich, aber auch sie gestehe ich ihr zu. Eine stumme, duldende Entschuldigung für die Jahre in denen ich ihre Fürsorge mit grausamen Worten zurückgewiesen habe. Im Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger meiner rechten Hand steckt ein Splitter, der spitz genug war, durch die Handschuhe zu dringen. Jen entfernt ihn vorsichtig. Mit Infektionen ist hier draußen nicht zu spaßen, ein Arztbesuch bedeutet eine zweistündige Autofahrt. Als sie später Jod auf die Stelle tupft, schimpft sie über die Arbeit. Sie hasst die Stunden, in denen ich fort bin und die derbe Ausdrucksweise, welche ich nach einem Tag dort draußen nur langsam wieder ablege und vor allem hasst sie es, dass die Anstrengung meinen Körper hart und kantig macht. Ich mag diese Arbeit und die Menschen, denen ich dort begegne. Rau und unerträglich ehrlich. Außerdem sind wir auf das Geld angewiesen. Als wir hier ankamen, entdeckte Jen den verwahrlosten Pflanzgarten und arbeitete dort mit unbekannter Verbissenheit. Die Ernte war gut, aber noch reicht sie nicht aus, um uns zu versorgen. Weitere Sommer werden kommen müssen.

Zum Abendessen gibt es Reibekuchen mit warmem Apfelmus. Die Gläser mit eingekochtem Obst stehen in dem wackligen Küchenregal, noch mehr davon stapeln sich in dem kleinen Kellerverschlag. Dazwischen Kartoffeln, Kräuter und getrocknete Pilze. Wir waren zu unerfahren, um den Rest zu konservieren. Jen entdeckte den Schimmel auf ihrem Tomatenchutney als ich im Wald war. Als ich zurück kam, fand ich sie weinend zwischen zerschmetterten Einmachgläsern. Ihr Anblick versetzte mich in Panik, im ersten Moment hielt ich die rote Masse mit der sie beschmiert war für Blut. Vielleicht packte ich sie zu hart, war zu ruppig, als ich die Flüssigkeit beiseite wischte und ihre Arme nach vermeintlichen Wunden absuchte. Sie schlug mir ins Gesicht, in den Augen eine Mischung aus Wut und so elementarer Angst, dass ich mehr davon als von der Wucht des Schlags zurücktaumelte. Sofort war sie bei mir, streichelnd und schluchzend. Ich weiß nicht mehr, wie oft sie sich in den folgenden Tagen entschuldigte. Für die Ohrfeige, das verdorbene Essen und den Kontrollverlust. Ich nahm an, wieder und wieder. Ich verstand Frust und Enttäuschung. Einzig für ihre Angst vor mir bat sie nie um Verzeihung. Und ich vergab nicht, dass sie ihn in mir gesehen hatte.

Viel habe ich nicht mitgenommen. Den Schlafsack, der uns als Decke dient. Das Handy für Notfälle. Vom Haus aus muss man einige Schritte gehen, um ein Netz zu finden, aber wir schalten es nie an. Das schmale Etui, das die mittlerweile stumpfen Jagdmesser meines Vaters enthielt. Dunkles Leder mit goldenem Monogramm. Früher war es überall. A.P. Auf Badetüchern, Tischfeuerzeugen, Servietten. Nachdem ich mit 16 auf einer Party einen schlechten Trip erwischt hatte, zog ich mich Zuhause vor dem Spiegel aus, getrieben von der Vorstellung, die elenden Buchstaben auch auf meinem Körper zu finden. Tatsächlich hat er mich viel tiefer markiert. Sein Stempel prangt auf meiner Seele. Hier könnte ich ihn loswerden. Mich lange genug dem rauen Klima aussetzen, bis er abblättert und verwittert wie das Monogramm auf dem Etui. Heute liegen darin zwei Fotos. Ein Portrait meiner Mutter, um nicht zu vergessen. Ein Bild ihres Grabes, um nie zu vergessen. Mein Leben in einer Kiste, Jens daneben. Ich weiß nicht, was sie mitgenommen hat, diese Kisten sind tabu und ich schiebe sie vorsichtig beiseite, um an das Nähzeug zu gelangen. Während ich meine Socken stopfe, liest sie aus einem der Bücher vor, die ihr Onkel hier gelassen hat. Die Hütte ist geschaffen für ihre Stimme, klein genug, um davon ausgefüllt zu werden. Vielleicht ist sie auch mit ihr gewachsen, hat Resonanz und Volumen ihrem neuen Wesen angeglichen. In unserem alten Haus klang sie dünn und brüchig. An jenem Abend, als er sie zum ersten Mal mit nach Hause brachte, wollte sie mir vorlesen. Damals war ich zehn Jahre alt und meine Mutter seit vier Monaten begraben. Jen wusste nichts davon, arglos und großäugig war sie dem Monster in seine Höhle gefolgt und versuchte, dort zu überleben. Ich war ihr dabei keine große Hilfe, aber sie lernte schnell. Funktionieren war wichtig.

Im Dunkeln gleitet Jens Hand zwischen meine Beine. Das war nie mein Plan. Ich wollte, dass er das Haus verlassen vorfindet, die Puppenstube geräumt. Mein Verlust allein schien nicht genug, wenn ihm noch eine Marionette blieb. Das folgende Gespräch mit Jen war das längste, das wir in all den Jahren des Zusammenlebens führten. Ich war mir sicher, dass sie verstehen würde. Naiv war sie, aber nicht ihrer Instinkte beraubt und sie hatte längst begriffen, dass ihr Weg sie dorthin führen würde, wo die Überreste meiner Mutter lagen. Jen überraschte mich nicht nur mit ihrer Zustimmung, sondern auch mit einem konkreten Plan und Ziel. Ihre Entschlossenheit war so neu und fremd, dass ich erst in dem Moment in dem ich das Auto vor der verlassenen Jagdhütte ihres Onkels parkte realisierte, dass wir es tatsächlich durchgezogen hatten. Anfangs redeten wir kaum miteinander. Aus Gewohnheit, aber auch überwältigt von der neuen Freiheit und voller Angst, davor dass der Andere zweifeln könnte. Mit der Zeit verlor unser Schweigen die Befangenheit, wurde angenehm und vertraulich. Erst danach wurden aus knappen Worten Gespräche und wir entdeckten neue Seiten aneinander. Als ich Jens Geschick im Umgang mit den Pflanzen bewunderte, erfuhr ich, dass sie gelernte Gärtnerin war. In unserem früheren Leben hätte ich mir nicht vorstellen können, wie ihre schmalen blassen Hände in der Erde wühlten. Hier draußen war es anders. Das Land schliff uns, trug Schutzschichten ab und legte unsere wahre Natur frei. Warm wich das Frühjahr dem Sommer. Ich fand Arbeit bei den Holzfällern. Harte Arbeit, aber es gab Geld und niemand stellte unangenehme Fragen. Die Tage wurden länger und der Garten grün. Als ich eines Abends nach Hause kam, wässerte Jen ein neu angelegtes Beet. Ihre Haare waren strähnig und feuchte Erde klebte zuerst nur an ihren blassen Beinen, später überall. Danach schlief ich nie wieder auf dem Boden. Jen ist geschickt, weiß die Müdigkeit für einige Zeit aus meinen Knochen zu vertreiben. Ich lerne, sie zu begehren, ficke nicht länger seine Frau sondern schlafe mit Jen. Warm, weich und gut.

Später bleibt sie bei mir, legt ein Bein um meine Hüfte und flüstert in mein Ohr. Ich schlafe schon beinahe, aber auch mein Unterbewusstsein weiß, dass sich ihre Aussagen irgendwann zu Fragen wandeln und eine Antwort erfordern werden. Eine Entscheidung, die ich hinaus schiebe. Wir wurden in ein gemeinsames Leben gezwungen. Gefunden haben wir einander erst hier draußen in der warmen feuchten Erde. Ich weiß, wie rot ihr Haar im Schein des Lagerfeuers leuchtet, wie sie nach einem Arbeitstag duftet und wie das Flusswasser aus ihrem Bauchnabel schmeckt. Dennoch bleibt die Angst, sie könnte eines Tages kapitulieren, schwach werden und vor den Umständen in die Knie gehen. Ich schiebe den Gedanken mit Jens Bedürfnissen beiseite, lasse mich einlullen von der Müdigkeit, der Wärme und ihren Worten.

Ich erwache vom Knarren der Tür. Kurz darauf wird es so hell, dass ich die Augen zusammenkneifen muss. Neben mir ist es kalt, Jens Körper fehlt und ebenso das Messer, das eigentlich auf dem Fenstersims liegen sollte. Die Stimme ist bekannt, gibt in kurzen Sätzen Anweisungen und dann zerren mich kräftige Arme aus dem Bett. Er ist nicht allein gekommen. Tatsächlich sind sie zu viert. Langsam gewöhnen sich meine Augen an das Licht. Sein Gesicht ist kantig und ausdruckslos und doch spüre ich, wie seine Wut den ganzen Raum füllt. Er hat mich nie angerührt und auch heute tut er es nicht. Stattdessen nickt er knapp und einer seiner Handlanger schlägt mir ins Gesicht. Mein Kopf fliegt zur Seite und eine plötzliche unangenehme Hitze breitet sich von der linken Wange aus über mein Gesicht aus. Keine Pause, dem ersten Schlag folgen weitere. Mein Kopf dröhnt und bevor es um mich herum dunkel wird, sehe ich Jen neben der Tür. Sie trägt ein fremdes, spitzenbesetztes Nachthemd und hält das Messer mit dem Monogramm an ihre Brust gepresst. Sie kapituliert nicht. Sie funktioniert. Prächtig.