Jesse
kommt, als ich keine Hoffnung mehr in das Türklingeln setze. Sein
Blick streift die verschlossenen Flaschen, Opfergaben aus den Händen
der wenigen Freunde, die ich ertragen konnte. Gutgemeintes aus aller
Welt und zugleich ein geschicktes Umgehen der Frage nach einer
angemessenen Begrüßung. Jesses Hände sind leer und er fällt mir
um den Hals. Vielleicht kennt er die Regeln nicht, wahrscheinlicher
aber, dass er sie ignoriert, denn dazu wurde er geboren.
„Sollen
wir über anderer Mütter Töchter reden? Fische im Meer, alte
Fesseln und neue Freiheit oder hast du den Quatsch schon durch?“
Ohne
zu verstummen, beäugt er einige Flaschen, und verzieht anerkennend
das Gesicht. Ich nicke ihm zu, soll er sie haben. Das hier ist zu
groß, um es zu ersäufen und letztlich lauert am Boden jedes Glases
Selbstmitleid. Jesse sammelt ein paar der Flaschen ein, dann steht er
vor mir, mustert mein Gesicht und ich frage mich ob er sehen kann,
wie dünn meine Haut geworden ist und dass er aufpassen muss.
„Du
siehst scheiße aus. Lass’ uns abhauen.“
„Wohin?“
„Sei
nicht blöd.“
Das
Meer also.
Seit
Ihrem Weggang ist die Wohnung gewachsen. Neue, düstere Orte sind
hinzugekommen, Leerstellen und Schreine, die gleichsam erbarmungslos
an sie erinnern. Eine handvoll Dosen und Päckchen hat sie im
Spiegelschrank zurückgelassen. Orange gegen Schmerzen, Blau für den
Schlaf, Weiß zum Lächeln. Mein Selbstbewusstsein, ein räudiger
Köter, durchwühlt ihre Motive nach vergifteten Leckerchen. Das Ich
ist geschrumpft, kneift und schneidet in das Fleisch des müden
Tieres. Kurze Nächte haben mich müde gemacht, die leere Bettseite
ist ein Abgrund und Träume gefährlich. Ich stecke die blaue Packung
in meine Jackentasche.
Aus
den Lautsprechern dringt unfassbarer Lärm. HATE. FUCK. DIE. Klingt
nicht gesund, würde aber vielleicht ein paar Dinge vereinfachen.
Jesse singt und klopft mit den Fingerspitzen aufs Lenkrad. Sein Haar
ist wirr und Kajalreste haben sich klumpig unter seinen Augen
gesammelt. Die Unbekümmertheit reizt mich zuverlässig, erinnert
mich an das, was mir fehlt, was ihr an mir fehlte. Wild und
rebellisch hätte ich sie vielleicht halten können. Wild und
rebellisch wünschte mich auch meine Mutter, aber das war später.
Anfangs stand ich ihr besser, wenn ich unauffällig war. Ansonsten
hätte ich sie wahlweise alt gemacht oder ihren Fehlern ein Gesicht
verliehen. Meinen Namen, so gestand sie mir irgendwann, hatte sie auf
der Wöchnerinnenstation aufgeschnappt, wo sie, von glücklicheren
Müttern interessiert beäugt, ihren neu erworbenen Mühlstein durch
die Gänge geschleppt hatte. Einen angepassten, oft vergebenen Namen
mit Diminutivpotenzial, das vor Ausrufezeichen brach lag. In ihren
Zweitgeborenen setzte sie andere Hoffnungen und wurde nie enttäuscht.
Jesse. Rebell, Dissident, Traumhändler.
Er
dreht das Geplärr leise und fragt mich nach dem Ende. Vor nicht
allzu langer Zeit hatte das Wort einen romantischen Beiklang. Zwei
Schläfen, zwei Abzüge, ihr entschlossenes Lächeln an meiner Wange,
während die Flammen sterbender Welten sich näherfraßen.
Stattdessen unerträgliche Profanität, Worte nur, nicht gezielt,
aber sie trafen trotzdem. Lange hatte sie ihre Gedanken für sich
behalten, beobachtet, abgewägt und alle Gefühle geschluckt. Als sie
endlich bereit war, sie auszusprechen, waren sie längst abgekühlt.
Wut, Enttäuschung und unerfüllte Ansprüche hatten sich in
Argumente gewandelt, denen ich nichts entgegenzusetzen wusste.
Jesse
hat die Musik ausgeschaltet, aber mehr als halbherziges Dösen ist
nicht drin. Träume und Erinnerungen lauern auch dicht unter
Oberfläche des Bewusstseins und ich finde keine Entspannung. Als ich
aufgebe, dunkelt es bereits, dennoch sind die vor dem Seitenfenster
vorbeiziehenden Konturen vage vertraut. Die Straße ist neu,
begradigt und von wohlerzogenen Bäumen zur Allee geadelt. Ihre
Vorgängerin war unerbittlich, eine blutgierige Schlange gesäumt von
wildem Wald. Es verging kaum ein Monat, in dem sie nicht ein Leben
nahm. Weiße Kreuze kündeten von ihrem Blutdurst und obwohl mir
manche der Namen vertraut genug sind, um mir das Wasser in die Augen
zu treiben, bot sie mir Trost. Ian, Kurt, Jim, die Stimmen der
Todgeweihten aus dem Kassettendeck, vor mir die Finsternis und im
Hinterkopf den Gedanken, dass eine einzige schnelle Bewegung des
Lenkrads im Notfall alles beenden konnten, waren genug, um den Kopf
wieder frei zu kriegen. Heute ist Sprit teurer und Trost unbezahlbar.
Schweigend
erreichen wir den menschenleeren Parkplatz. Hinter den Dünen liegt
das Meer. Jesse murmelt vor sich hin, aber ich höre nicht zu. Auf
der unvollkommenen Wasserfläche spiegelt sich der Vollmond weiß und
hart. Wir sollten ihn anheulen, verlassene Geschöpfe die wir sind.
Nur die Starken ertragen bedingungslose Gottlosigkeit, der Rest
heuchelt und beugt das Haupt vor gefährlichen Götzen. Wie zum
Beweis lässt Jesse sich in den Sand fallen und zieht eine der
mitgebrachten Flaschen aus dem Rucksack. Stolichnaya, ungekühlt,
aber so mild, dass es nichts ausmacht.
Die
Flasche leert sich schnell und lockert meine Zunge. Szenen fügen
sich zu Geschichten, die Vergangenheit wird schmerzlich greifbar. Es
war nie perfekt, aber wenn ich es uns einrede, tut es mehr weh und
ich stecke sowieso schon so tief in der Scheiße, dass ich auch
gleich darin baden kann. Ich rede gierig, zimmere ihr einen Altar aus
feinem Sand und forme darauf ihr Bild in all seiner erbarmungslosen
Schönheit. Jesse hört zu bis die Worte versiegen.
„Lass
sie los.“
Er
steht auf und deutet in Richtung Meer.
„Lass
sie los? Wirklich?“
Ich
lasse mich in den Sand fallen und lache.
„Wann
und wie ich loslasse, geht dich nichts an.“
„Und
das hier? Das geht mich auch nichts an?“
Jesse
zieht etwas aus seiner Hosentasche und es dauert ein paar Sekunden,
bis ich die Schlaftabletten erkenne. Weitere Sekunden in denen ich
ebenso hektisch wie sinnlos meine Jacke danach abtaste, bis ich
begreife, worauf er hinauswill. Held sein, einmal nur. Dumm, dass er
nicht bedacht hat, dass ein Rollentausch immer beide Spieler betrifft
und er es nicht erträgt, dass ich nun derjenige bin, der jegliche
Vernunft sausen lässt. Ich lasse mich gehen, berausche mich an
Kummer und Selbstmitleid und nicht weniger steht mir zu. Die Wunde
ist tief, und noch bin ich nicht gewillt, sie heilen zu lassen, aber
sie wird mich nicht töten. Noch bevor ich das Jesse erklären kann,
holt er weit aus und schleudert die Packung ins Meer. Er blickt ihr
nach, eine schwarze Silhouette vor dem weißen Mond und plötzlich
weiß ich, warum wir hier sind.
Vielleicht
liegt es an Jesses Überraschung, dass mein erster Schlag ihn von den
Füßen holt, so oder so fühlt es sich gut an, und ich lege nach.
Etwas Verkümmertes erhebt sich aus der Dunkelheit und schafft sich
zornig Platz. Vorschläge und Ratschläge. Ich muss keine Waffen
wählen, sie fallen mir zu. Unter mir krümmt sich Jesse, aber zu
viele verpasste Gelegenheiten schieben jedes Mitleid zur Seite. Das
Meerwasser frisst sich den Jeansstoff hinauf. Nasse Waden, nasse
Schenkel, nasser Arsch. Ich schleife Jesse aus dem Wasser, lege meine
Hand auf sein Gesicht und erhöhe den Druck. Befreiungsschläge
„Was
hältst du davon, Traumhändler?“
Er
ist kein Held, so sehr er es heute auch sein wollte, aber was
Schlägereien angeht, verfügt er über die größere Erfahrung.
Seine Faust trifft unvermittelt, hart und präzise auf meinen Kiefer.
„Nichts.“
Und
so ist es.
Schwarz.
Pochender
Schmerz weckt mich. Der Strand ist in warmes Orange getaucht, aber
ich friere erbärmlich. Vorsichtig hebe ich meinen Kopf von Jesses
zusammengeknäulter Jacke und betaste meinen Kiefer. Jesse. Er sitzt
direkt neben mir, die Schwellungen in seinem Gesicht sehen im sanften
Morgenlicht bereits hässlich aus, aber als er sieht, dass ich wach
bin, lächelt er. Hinter ihm erhebt sich eine filigrane Sandskulptur.
Ich
lächele zurück.
Die
dunklen Tage haben gerade erst begonnen.
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