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Originalfoto von Angelika Weis |
Morgen: Ich bin zurückgekommen, um
festzustellen, dass diese Stadt nur noch bei Nacht zumutbar ist. In
der Sonne ist es unerträglich heiß, aber die Schattenplätze sind
überfüllt. Ist der Himmel nicht grellweiß, kleidet er sich
schwefelgelb und die Hitze wechselt von stechend zu drückend. Zu
eng, zu laut, zu voll. Kleidung, die in krampfadriges Wadenfleisch
schneidet und haarige Leberflecke präsentiert, über allem der
Geruch von Schweiß, irgendwo zwischen Essig und Zwiebeln. Inmitten
der hässlichen Menschen bin ich die Hässlichste. Der Pareo wirkt
albern, ein hilfloser Versuch. Die gebräunte Haut meiner Beine
glänzt jetzt billig und mein Gestank lässt mich würgen.
Verzweifelt suche ich nach den Gefühlen der vergangenen Wochen.
Leichtigkeit, Freiheit und Übermut, der unübertreffliche Cocktail
aller Abschlussfahrten. Gierig hatte ich all die Eindrücke
aufgesogen, auf jede erdenkliche Weise konserviert, bereits getrieben
von der Angst, zu vergessen. Gegen Ende war da sogar ein Hauch von
Sehnsucht nach der Stadt und dem Wiedersehen mit dem Menschen.
Geblieben sind Abscheu und Furcht und letztere steigert sich, während
ich durch das muffig riechende Treppenhaus nach oben gehe. Er weiß,
dass ich zurück bin, beinahe pünktlich und dennoch muss ich
mehrfach klingeln, bevor er mir öffnet. Innerhalb von zwei Wochen
hat er aus der Wohnung ein Dreckloch gemacht und als ich die Rolläden
hochkurbele um frische Luft herein zu lassen, sehe ich, dass er sich
selbst als Inventar zu betrachten scheint. Der Sommer hat ihn nicht
einmal gestreift, seine Haut ist bleich, trocken und um die Augen
dunkel. Ich trete auf einen Joghurtbecher und sauer riechende Masse
quillt auf die Bodendielen. Worte, die meisten davon grob und
hässlich, bahnen sich ihren Weg. Jene Härte, hinter der ich
Verzweiflung verberge, die mir das Gefühl gibt, stark und mutig zu
sein. Sie prallt ab an seiner Schutzschicht aus Dreck, perlt von
seinem fettigen Haar und zerplatzt an den abgekauten, zackigen
Rändern der Fingernägel. Er zuckt die Achseln und breitet die Arme
aus. Auf den ersten Blick hilflos und entschuldigend, tatsächlich
aber eine Machtdemonstration. Narben - alt, jung, verblasst, erhaben,
rot - allesamt überzeugender als meine Worte. „Du hast gefehlt.“
Ich bin zu angespannt, um nach Gründen zu fragen.
Mittag: Die Kochnische ist noch am
saubersten, was er in den letzten beiden Wochen gegessen hat kann ich
an den Resten und Verpackungen auf dem Boden erkennen. Später stehen
drei volle Müllsäcke im Flur. Schweiß und Essigreiniger brennen in
kleinen Schrammen, mein Körper fühlt sich so roh und wund an, dass
ich mich nicht traue, die nassen Kleider auszuziehen, aus Angst ich
könnte meine Haut mit abstreifen.
Noch immer rauscht die Dusche und ich
versichere mir zum wiederholten Mal, dass er die Zeit jetzt braucht
und ich den Aufprall hören würde. Zwischen den Polstern des Sofas
finde ich ein Foto. Fast hätte ich es in die Schublade zu den
anderen gelegt. Familienbilder. Er, seine Brüder. Die Gesichter
seiner Eltern hat er entfernt, je nach Gemütslage sauber mit der
Rasierklinge ausgeschnitten, an den heftigeren Tagen mit der
Zigarettenspitze weggebrannt, gerissen, gebissen. Dieses Bild
allerdings zeigt uns vor einem halben Jahr. An jenem ersten Abend.
Das letzte Schulhalbjahr hatte begonnen, die Vergangenheit löste
sich auf, während die Zukunft noch im Nebel lag.. Alles schmeckte
fad, alles langweilte und zugleich war ich auf der Suche nach Halt.
Er war da, auf einer jener Partys, die zu Finanzierungszwecken nun
beinahe wöchentlich stattfanden. Inmitten der Menschen, die sich
den Ausdruck gelangweilter Lässigkeit ins Gesicht zwangen, war er
ein Lächeln, ein aufrichtiger Blick und ein Gespräch. Er war da,
als Winterkälte aus Alleinsein Einsamkeit machte und etwas fehlte.
Abend: Seine hellen Augen sind klar und
wach, meine Haut verschwitzt und schmutzig. Ich will nicht, dass er
mich jetzt berührt, kralle die Fingernägel in die Handflächen, als
er den Kopf in meinen Schoß legt und sein sauberes, feuchtes Haar
auf die glühende Haut meines Oberschenkels fällt. Und doch ist es
gut. Er besitzt eine Schönheit, deren Reiz ich mich nicht entziehen
kann. Eine perfekte Hülle hinter der ein ebenso unwiderstehlicher
Abgrund lauert. Ich habe ihn gesehen und man hat mich davor gewarnt.
„Sei vorsichtig“, flüsterte mir sein Bruder zu, als er uns
einander vorstellte, „er ist anders.“ Anders. An jenem Abend
klang es wild, abenteuerlich und verlockend. Er kannte schöne und
kluge Worte und besaß die Fähigkeit, sie mir zu widmen, wagte zu
tanzen ohne zu trinken. Inertia creeps, You get what you give,
Spanish Flea. Romeo und Perdita. Anders. Wie passend und schön es
damals klang. Wie schmerzvoll, es neu zu definieren. „Du hast
gefehlt.“ Ich bin zu müde und elend, um nach Gründen zu fragen.
Nacht: Er hat die Matratze auf den
Balkon geschleift, weil er unter freiem Himmel schlafen will. Ich
habe eine Brise erhofft, eine Abkühlung oder zumindest eine
wahrnehmbare Temperaturveränderung, aber kein Luftzug wagt sich ins
geschwürzerfessene Gedärm der Häuserschluchten. Noch immer ist es
laut dort unten, man feiert die eigenen Abgründe, zeigt einander
kichernd die vom Leben geschlagenen Wunden und verwechselt sie mit
Erfahrung. Hier oben sitzen wir und versuchen, nicht zu verbluten.
„Die Stadt frisst die Sterne.“ Er sitzt auf der Brüstung und
starrt in den orangefarbenen Schimmer, hinter dem sich die Nacht
verbirgt. Ich folge seinem Blick, finde den Schützen, beide Wagen
und die elende Wega, aber keinen Trost. Sterne, Kometen, Leoniden. Am
schönsten im freien Fall und sicherheitshalber umschlinge ich sein
Bein. Zu dünn, aber er wartet nur darauf, dass ich etwas sage.
Masochistische Vorfreude in seinen Augen und ein angriffslustiges
Lächeln auf den schönen Lippen. Wenn ich mich auf Härte berufe,
nutzt er seine analytischen Fähigkeiten, spürt Schwachpunkte
zielgenau auf und weiß sie zu treffen. Wann immer Wut und Schmerz zu
groß werden, schafft er sich ein neues Schlachtfeld, das seine volle
Aufmerksamkeit fordert. Einen schuldbewussten Moment lang wünsche
ich mir seine Verzweiflung zurück. Schweigend ziehe ich ihn zu mir
auf die Matratze. Er lässt es zu, wird Marionette, Puppe, eine
überwältigende und reglose Reliefkarte. Fasziniert streiche ich
durch das nachtschwarze Haar, grabe die Zähne in die weiche Haut
oberhalb seines Schlüsselbeins und kratze ihm Sternbilder in die
Brust. Ich fürchte die messerscharfen Rippen und die Grate der
Hüftknochen. Täler sind mir lieber und ich bin zu aufgeputscht und
geil, um nach Gründen zu fragen.
Mitternacht: Es ist still geworden und
die letzten Lichter sind erloschen. Über uns gibt sich die Nacht
samtig und lässt den Sternen den Vortritt. Sein Gesicht ist
friedlich, sticht mir ins Herz und in diesem ruhigen Moment ist mein
Wunsch ihn zu retten selbstlos. Eine Zeit lang bleiben wir stumm,
genießen die Hoffnung bevor wir sie gemeinsam zerstören. Ich mit
meiner Frage nach den Gründen, er indem er mich mit seiner Antwort
zurück in die Schlacht schickt:
„.Es ist furchtbar, mit mir allein zu
sein.“
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