Montag, 14. Januar 2013

Gratwanderer 3



Am Rand eines Anderen Abgrunds


hinter dem Nachtschalter ist klug genug, unsere erbärmliche Erscheinung zu ignorieren und sich voll und ganz dem Geschäft seines Lebens zu widmen. Die Beleuchtung der Tankstelle lässt Nils' Gesicht grün wirken und das Aufeinanderschlagen meiner Zähne ist unkontrollierbar. Der Spätsommertag ist einer Herbstnacht gewichen und ich habe nicht daran gedacht, meine Jacke anzuziehen. Auf dem Rückweg schweigen wir. Nils scheint sich Worte zurecht zu legen und ich suche vergeblich nach einer Möglichkeit, sie mir nicht anhören zu müssen. Lex' dicker roter Kater wartet vor der Haustür und schließt sich uns an. Schnurrend umstreicht er meine Beine, ein vermeintlicher Beweis dafür, dass ich in der Lage bin, Verantwortung zu übernehmen. Tatsächlich zeugt das Vieh nur davon, dass Talla nicht die Erste war, die ich im Stich gelassen habe.


Die Tatsache, dass ich Tallas Alter erst während ihrer Trauerfeier erfuhr, verwundert Nils. Ich habe einfach nie danach gefragt. Als sie sich nach meinem Geburtstag erkundigte, schwieg ich. Ich verbrachte und verbringe ihn bevorzugt alleine. Seitdem ich alt genug aussehe, um Alkohol zu kaufen, suche ich mir ein ruhiges Plätzchen in der freien Natur und widme mich dort hingebungsvoll dem Inhalt der erworbenen Flaschen, bis die Welt vor mir verschwimmt. Immerhin angenehmer, als die früheren Feiern im Familienkreis, an denen Lex und die mir verbliebene Großmutter sich ebenso eifrig wie vergeblich bemühten, eine fröhliche Stimmung zu verbreiten, während meine Eltern, gefrorenes Lächeln auf den Lippen, dem Jahrestag ihrer bittersten Enttäuschung gedachten.
„Nicht kompatibel.“
Das Flüstern des Arztes tätowierte Schatten auf ihre Gesichter, machte sie zum traurigsten Paar auf der Neugeborenenstation, stellte mir die Diagnose für das Leben, das vor mir lag. 


Ich habe noch nie Wert auf Geburtstage oder sonstige Daten gelegt und vermutlich fand Talla diese Angewohnheit originell genug, um sie zu übernehmen. Dass sie drei Jahre älter war als ich, überrascht mich nicht, aber dennoch rückt es sie in ein anderes Licht. Ich zeigte ihr meine Ecken und Kanten, um sie auf Distanz zu halten. Stattdessen band ich sie damit fester an mich, war sie dankbar, für all die blutigen Schrammen, die sie sich an mir holte und die sie als Zeichen des Erwachsenseins betrachtete. 


Er spricht ihren Namen aus, als könnte er sich noch immer daran verletzen. Ich will weg laufen, schreien, ein Kissen auf sein Gesicht pressen, aber ich sitze stumm und gelähmt neben ihm, unfähig, mich seinen Worten zu entziehen. Während Nils erzählt, entdecke ich, wie sehr sich unsere Biographien gleichen. Es ist egal, ob man ein mit Erwartungen behaftetes Wunschkind ist oder versehentlich gezeugt wurde, beides schmerzt, wenn es einem vorgehalten wird. Während ich mich mit Verachtung wappnete, war er süchtig nach Zuneigung. Und die erhielt er von diesem Mädchen, das sich so sehr nach der Finsternis sehnte. Nils hatte Talla auf jenen Thron gehoben, von dem ich sie später stoßen und ihr Genick brechen sollte.


Wie bezaubernd sie als Teenager gewesen sein muss. Grenzenlose Unbekümmertheit und kindlichen Glauben im Gesicht. Nils erzählt, dass sie jeden hätte haben können, aber der Aussage, dass sie sich für ihn entschied, fehlt der normalerweise damit einhergehende Stolz. Er durchschaut sie, vielleicht erst seit dem vorigen Tag oder diesem Moment aber er tut es und die Erkenntnis muss schmerzen.


Assoziationen und Projektionen, die schleichenden Begleiter der Verliebtheit. Anfangs klein und harmlos, wachsen sie sich zu Messern im Rücken der Liebe aus, wenn man ihnen Beachtung schenkt. Talla hat sich als Heldin eines Stückes betrachtet, das sich ihren Launen entsprechend zwischen den verschiedenen Genres bewegte. Wohltäterin, Liebhaberin, Dompteurin. Wie sehr sie sich in diesen Rollen gefallen haben musste.
Ich will sie vor Nils bloßstellen, sie Chantal nennen und ihr die unzähligen Masken und Kostüme vom Leib reißen, bis ihre Motivation in ihrer ganzen Hässlichkeit vor ihm steht, aber das ist nicht länger nötig. Wie sehr wir uns in diesen Rollen gefallen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, bis sie blutet. Die Luft im Wohnzimmer ist heiß, trocken und verqualmt. Ich sehe Nils' fragenden Blick. Er erwartet sein Urteil. Er blickt auf das Blut. Die Flaschen sind leer und es dämmert. Vielleicht schulde ich ihm Tränen, aber die habe ich nicht. Nur Schweiß und eben Blut.





Teil 1