Mittwoch, 9. Oktober 2013

Kornmuhmenblau





Noch waren die Tage lang. Der Mais war so golden, dass die Kinder gar nicht anders konnten, als hinein zu laufen. Hindurch, tiefer zwischen die Pflanzen, die sie so angenehm überragten. Es war ein albernes Spiel und sie spielten es immer, wenn ihnen nichts besseres einfiel, aber es verlor nie seinen Reiz. Das Herzklopfen, wenn sie, ein jeder für sich allein, durch die Reihen gingen, neben ihnen ein Rascheln, das alles Mögliche sein konnte. Die Nervosität, die durch ihre Körper wanderte, eine Mischung aus der Furcht, vom Bauern entdeckt zu werden und irrationaler, Angst. Schließlich die wilde, köstliche Panik, wenn sie sich umwandten und in kichernder Hysterie aus dem Mais jagten.

Der Junge lässt sich in der Mitte des Sees auf dem Rücken treiben. Sein Name ist Finn, aber er wird so selten gerufen, dass er ihm fremd scheint. Er nutzt ruhige Momente wie diesen, um ihn vor sich hin zu flüstern. Finn. Finn. Er wirkt entspannt, ist aber wachsam, immer wieder gleitet sein Blick am Ufer entlang, bis er auf das Gesicht des Wanderers trifft. Ein entwarnendes Lächeln liegt darin, keine Gefahr in Sicht und der Junge verwandelt sich in planschende Arme, prustendes Lachen und strahlende Augen. Bevor ihn die Szene berühren kann, holt der Wanderer Spiegel und Rasiermesser aus seinem Rucksack. Achtsam schabt er den sandfarbenen Bart von seiner Haut und legt unerwartete Unschuld frei. Vor Kurzem ist er zwanzig Jahre alt geworden, ohne es zu bemerken. Er hat seinen Geburtstag vergessen, wie er so Vieles vergessen hat, was ihm in den langen Tagen wichtig war.

Als die Kinder durch das Getreide tobten, öffnete etwas, das tief im Inneren des Feldes schlief, ein blutunterlaufenes Auge. Die Haut seines eingefallenen Gesichts glänzte blauschwarz, als es den Kopf hob und in die Luft des Sommertages witterte. Fleisch, zart, jung und verlockend süß, aber der Wind befahl Geduld. Er flüsterte von Kommenden und was er versprach, gefiel. Der letzte Morgen würde allzu bald dämmern und in der ewigen Nacht würde es sich erheben, um wieder zwischen den Reihen zu gehen. Dieses Mal vielleicht sogar dahinter.

Im See ist es ruhig geworden und der Wanderer blickt auf. Der Junge steht nicht weit weg, ganz still
im knietiefen Wasser und starrt konzentriert nach unten. Noch haben sie ausreichend Vorräte und sind nicht auf den Fisch angewiesen. Der Wanderer hat Finn gelehrt, wie man mit bloßen Händen fischt und jagt, wie man Fallen stellt und essbare Pflanzen von giftigen unterschiedet. Auch das Schwimmen hat er ihm beigebracht, überrascht vom Anblick des Jungen, der ihm hundegleich paddelnd und verzweifelt nach Luft schnappend folgte, als sie erstmals gemeinsam einen Fluss durchquerten. Er hat ihn gelehrt, in der Wildnis zu überleben und noch während er das denkt, schiebt sich dem Wanderer das Bild des Generals vor Augen, spürt er den Lufthauch des Gürtels neben dem Ohr und den rauen Teppich unter den Knien. Ich bin nicht so, versichert er dem Schatten der Bäume und zwingt seine Aufmerksamkeit zurück in die Gegenwart.

Im Maisfeld starb die Frau schon viel zu lange. Ihr Gesicht war bereits blau, aber ihre Stimme laut und klar, als sie dem Wanderer so viele Geheimnisse zurief, dass er näher kam. Sein Mund war schmal und hart wie seine Augen, aber der Frau zerrann mit ihren Gedärmen die Zeit und so oder so hätte sie keine Wahl gehabt. Der Flüssigkeitsverlust hatte ihre Lippen zurück gezogen und als sie den Fremden anbettelte, beschwor und bestach, lag ein wölfisches Grinsen auf ihren Lippen.

Jetzt reißt der Junge die Arme aus dem Wasser, einen zappelnden Fisch in den Händen, legt den Kopf in den Nacken und stößt einen leisen, aber triumphierenden Schrei aus. Als er aus dem Wasser steigt, präsentiert er dem Wanderer seinen Fang. Eine glänzend bronzefarbene Brasse, die noch nicht versteht, wie ihr geschieht und ebenso panisch wie vergeblich um Atem ringt. Der Junge schlägt den Kopf des Tiers auf einen Stein, bis es aufhört zu zappeln. Ein Teil des Lächelns ist aus seinem Gesicht gewichen und ein weiterer folgt, als der Wanderer ihm das Messer reicht. Finn nickt ergeben und seine Hände zittern nicht, als er sich über den Fisch beugt.

Als sich der Himmel rot färbte und Feuer erbrach, besannen sich die Menschen ihrer letzten Gottheit. Im Feld erhob sich die Kornmuhme und breitete die Arme aus für all jene Kinder, die nun taumelnd, schleppend und zuletzt kriechend in den Feldern Zuflucht suchten. Sie erinnerten sich ihrer elementarsten Gebete und flüsterten sie, baten um Rettung, Vergebung und am Ende, als ihnen die enorme Hitze das Fleisch von den Lippen sengte, nur noch um Erlösung. Die Kornmuhme zehrte von ihrem Schmerz, ballte die erstarkende Faust und flüsterte Flüche in den Wind, auf dass er sie zu jenen trug, die noch glaubten.

Finn sieht aus, als hätte der Fisch ihn ausgenommen und nicht umgekehrt. Rot tropft es von seinen Händen, vermischt sich auf den Unterarmen mit Wasser und läuft ihm als blassrosa Rinnsal über die Beine. Er geht einige Schritte in den See hinein, um sich zu reinigen und kehrt dann an seinen Posten zurück. Sie haben die Rollen getauscht und nun ist er es, der am Ufer Wache hält, während der Wanderer seine Bahnen zieht. Schnell und gerade kraftvoll genug, um die Anstrengung in den Gliedern zu spüren, ohne sich dabei zu verausgaben. Wie er selbst kreisen auch seine Gedanken.
Er denkt an die Amsel, die er gefunden hatte, als die Tage noch lang und sein Name Maxim war. Ob sie das Opfer einer Katze geworden oder gegen eine Scheibe geflogen war, wusste er nicht, als er das Tier von der Straße hob und nach Hause trug, um es seiner Mutter zu zeigen. Der Kopf des Vogels war seltsam abgeknickt und als Maxim ihn auf den Küchentisch legte, begann er mit einem Flügel zu schlagen. Der andere bewegte sich nicht, sodass die Amsel hektisch auf dem Tisch rotierte und der kleine Schnabel öffnete und schloss sich, ohne dass ein Laut heraus drang. Maxims Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt und ihn aus dem Zimmer geschickt, aber er hatte dabei sein wollen. Er erinnerte sich an das glänzend schwarze Gefieder im Nacken des Tieres, kurz bevor sich die Finger seiner Mutter darum legten, sich leicht und schnell drehten und das Genick der Amsel brachen. Als sie den Vogel gemeinsam begruben, weinte er und die Mutter erklärte ihm, dass sie der Amsel großes Leid und viele Schmerzen erspart hatten. Sie strich ihm durchs Haar und flüsterte, dass es so besser sei.

Dem Feuerregen folgten Finsternis und Kälte und die Saat lag brach im ewigen Winter. Ihres Reiches beraubt durchstreifte die Kornmuhme die Nacht und fand eine neue Heimat in den Träumen der letzten Menschen. Sie ist es, die schwarzlippig in die Dunkelheit flüstert. "Komm zu mir, nur ein Weilchen, mein Kind. Leg' deinen schweren Kopf in meinen Schoß und schlaf'. Bleib' solange du willst, eine Stunde, einen Tag oder für die Ewigkeit. Letztlich ist es egal, denn du weißt, dass es so besser ist"

Der Wanderer holt tief Luft und durchquert die Hälfte des Sees tauchend. Als er aus dem Wasser steigt, hat der Junge bereits ein Feuer entzündet. In einer niedrigen Grube, wie der Wanderer es ihm beigebracht hat. Sein Lob lässt Finns Augen strahlen und Maxim erwidert das Lächeln des Jungen, bemüht, nicht auf dessen Hals zu blicken, auf dem das feuchte Haar schwarz glänzend und allzu vertraut klebt.

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