Dienstag, 4. März 2014

Mentalisierung/Fragmente





Originalfoto von Angelika Weis




Wir sind Schatten. Wir warten in jeder schlecht beleuchteten Straße, jedem uneinsehbaren Winkel. Wir lauern in den Sekunden, die zwischen dem Betreten eines dunklen Raums und dem Ertasten des Lichtschalters liegen. Du weißt, wie sich unser Atem in deinem Nacken anfühlt, aber du hast verlernt, ihn von einem Windhauch zu unterscheiden.

Die Brutalität mit der die Grenzen niedergerissen worden waren, verhieß einen Strom, aber der Wahnsinn war ein Rinnsal. Es sickerte durch die Schichten der Realität, versetzte dem Bewusstsein unregelmäßige Impulse und zwang es zurück in den Körper.

Wir sind Schmerz. Das Knirschen deiner Wirbelsäule auf dem Mahagonischreibtisch. Das glühende
Ende der Zigarette auf deiner Haut und das Knacken deines Nasenbeins. Das Messer in deinen Eingeweiden, das Stechen und Reißen.

„Viel sieht man nicht. Wie lange ist das her?“
„14 Tage.“
„Sie hätten früher kommen müssen. Jetzt kann man nichts mehr machen. Wie ist das denn passiert?“
Er war ziemlich betrunken und auch etwas abgelenkt, weil einer der anderen einen Witz gemacht hatte und als er aufstehen wollte, hat er sich versehentlich in meinem Gesicht abgestützt.
„Beim Skaten gegen ein Schild gefahren.“
„Oh. Sie haben aber gefährliche Hobbies. Das nächste Mal dann etwas vorsichtiger, ja?“
Ja. Das nächste Mal dann.
„Ich sehe da derzeit keine Schwierigkeiten, was das Atmen angeht.“
Ich auch nicht, es ist unmöglich.
„Bliebe der kosmetische Aspekt.“
Unvermittelt zieht er einen Spiegel hervor und ich beiße mir auf die Lippen, um nicht zu schreien.
„Wie gesagt, man sieht es kaum, eine leichte Asymmetrie, sie fällt gar nicht auf.“
Nein, angesichts der allgemeinen Schräglage kann man das wirklich nicht behaupten.
„Wenn Sie mich fragen, steht einer Modelkarriere nichts im Wege.“
Er lacht freundlich und ich lache zurück, bis ich den Anblick seiner weißen Zähne nicht mehr ertrage und wegsehe. Hinter dem Schreibtisch materialisieren sich die Schatten.

Wir sind die Lüge. Das Zähnefletschen hinter deinem Lächeln und das Zucken deiner Lider, wenn Freunde sich nach deinem Befinden erkundigen.

Seine Augen sind unversehrt, helle Projektoren und das Wissen darin unauslöschbar. Das umliegende Gesicht trägt Kampfspuren. Beim Versuch sie beiseite zu wischen verliere ich zwei Finger und er eine fragend gehobene Braue. Noch immer glaubt er daran, dass man alles hinter sich lassen kann, wenn man nur schnell genug läuft. Der Läufer hält meine Hand fest umklammert, Hoffnung trägt ihn und atemlos flüstert er von Liebe. Ich taumele hinterher, stolpere über seine unbeholfene Fürsorge und zerschelle an seinem Mitleid.

Wir sind der Hass, die zerstörerische Kraft hinter deiner Ohnmacht. Jedes grausame Wort, das du den Deinen entgegen schleuderst. Wir sind bei dir, wenn du durch die düsteren Ecken der Stadt ziehst, ein Streuner auf der Suche nach einer Gelegenheit. Wir sind der Triumph, der deinen Treffern innewohnt und die nachtschwarze Befriedigung über jeden Schlag den du einstecken musst.

Die Monster haben ihren Platz unter dem Bett schon lange verlassen. Auch auf die Nacht sind sie nicht mehr angewiesen. An den guten Tagen gelingt es mir, sie zu ertränken. An den schlechten nicht.

Wir sind die Angst. Das unkontrollierbare Zittern, die Panik, die nach Patchouli, Schweiß und Blut stinkt. Wir sind die brüchige Stimme der Unsicherheit, wann immer du mit einem Fremden allein bist.

Ich siege nicht. Ich beuge mich der Vergangenheit, schreibe die Gesetze des Erträglichen neu und warte, ob mir das Überleben vergönnt ist. Manchmal sieht es gut aus. Heute nicht.

Wir sind Schatten. Wir warten in jeder schlecht beleuchteten Straße, jedem uneinsehbaren Winkel. Wir lauern in den Sekunden, die zwischen dem Betreten eines dunklen Raums und dem Ertasten des Lichtschalters liegen. Du weißt, wie sich unser Atem in deinem Nacken anfühlt, aber du hast verlernt, ihn von einem Lufthauch zu unterscheiden. Wir sind da und wir werden bleiben. Lass uns spielen!

Keine Lust.

Hast du Angst? Du wirkst eingeschüchtert.

Das täuscht. Ich bin müde.