Donnerstag, 18. Juli 2013

Gebranntes Kind





Die Zeit hat ihr Vieles genommen, aber nichts vermisst Evka so sehr wie den Schlaf. Vor langer Zeit verliehen dichte schwarze Brauen ihrem Gesicht etwas Wildes, Exotisches. Jetzt heben sie sich kaum mehr von ihrer pilzgrauen Stirn ab. Die Augen darunter fixieren den Wecker nicht. Zum einen fällt es ihnen schwer, zum andern braucht die Alte kein Ziffernblatt, um zu wissen, dass es zwei Uhr ist. Ihre Zeit, egal wann sie sich vorher schlafen gelegt hat. Ihr Körper kennt keine Müdigkeit, nur Schwäche. Bleischwer sind ihre Glieder, nur mit Mühe aus dem Bett zu hieven und trotzdem könnte sie schneller sein, wenn sie wollte. Sie fürchtet den Sturz, den Bruch, die Abhängigkeit. Die Perücke bleibt auf dem Nachttisch zurück, während sie den Lehnstuhl ans Fenster schiebt. Ihr Rücken hat sich der Last seiner Jahre gebeugt und sie muss das Kinn heben, um nach vorne zu sehen. Vor achtzehn Jahren kaufte ihr Sohn Evka einen Fernseher, aber sie benutzt ihn kaum. Sie hat andere Mittel und Wege, die Welt zu sehen. Mit einer Konzentration, die den zitternden, zahnlosen Mund zur Ruhe bringt, lässt sie ihren Blick über das Land streifen. Schnell vorbei an Lidice, das sich wimmernd in ewigen Albträumen windet, nach Westen, zu jenen die sie liebt.

Dort sitzt Antonin in einem Sessel, ein Glas Pinot in der Hand und liest. Blaugrau windet sich der Rauch um ihn, in seine rot geäderten Augen, die unbeirrt über die Seiten wandern. Ihr einziger Sohn und noch immer erstaunt er sie. Evka wuchs in einer Zeit der Tat auf, die Theorie ist ihr fremd. Die Lehren ihres Sohnes begreift sie nicht, findet keinen Zugang zu den Inhalten seiner Bücher, aber die ihnen entgegen gebrachte Aufmerksamkeit, erfüllt sie mit unbändigem Stolz. Schon als Junge las und sinnierte er viel und wie damals zieht sie sich sanft zurück um ihn nicht dabei zu stören.

Die Alte schickt ihren Blick weiter nördlich, wo Nicol lächelnd zu dem Mädchen aufblickt. Ihr jüngster Enkel, in dessen Zügen sie ihren Vater wieder erkennt. Sein entspanntes Gesicht rührt und fasziniert sie so sehr, dass sie lange nicht bemerkt, was für eine intime Szene sich ihr bietet. Erst als die sanften Bewegungen des Mädchens heftiger werden, sinnliche Hingabe sich in derbe Begierde verwandelt, nimmt sie es wahr und vergessene Lust durchzuckt beinah schmerzhaft ihren Unterleib. Erschrocken zieht sie ihren Blick zurück.

Zu schnell, denn sie verliert die Kontrolle über Raum und Zeit, spürt, wie sich ihr Körper strafft und aufrichtet und dann ist sie wieder fünfzehn, Evka, eine bleiche Schönheit mit wiegenden Hüften. Ihre Jugend ist keine Zeit der Individualität und doch ist da dieser tanzende Funke, der sie dazu bringt, verirrten Bubenhänden kräftige Schläge zu versetzen, anstatt kichernd davon zu laufen. „Mein Mädchen“, lacht ihr Vater und zerzaust ihr Haar, wenn ihre Mutter sich wieder über das ungestüme Verhalten der ältesten Tochter beschwert. „Mein Mädchen“, flüstert er, als seine Augen brechen während die Schreie ihrer Mutter die Schüsse übertönen.

Das Tuten des Telefons raubt mir den Schlaf, aber Nicols Gesicht ist ruhig und entspannt. Ich lege den Kopf auf seine Brust und lausche seinem Herzschlag. Um uns versammeln sich die Geister.

Ravensbrück lehrt Evka, den Funken zu unterdrücken, davon zu zehren und es lehrt sie, zu laufen. Laufen, ohne zurück zu sehen, gejagt von glutheißem Wind. Laufen nach Nordwesten, getrieben wie Vieh, schwache Hoffnung im Herzen und Bluthunde im Rücken, Mutter und Schwester sind zu langsam, aber Evka läuft weiter. Niemals stehen bleiben, auch nicht für die Befreier, die schießen, wenn man ihre sehnsüchtigen Hände weg schlägt. Zurück nach Osten, aber Lidice ist Staub. Skelette mit blutenden Händen und tätowierten Seelen bauen einen Ort für die brüllenden Geister und Evka läuft weiter. Hinein in die goldene Stadt, wo das Leben tanzt und Evka ihren gewaltigen Durst danach stillt. Gebranntes Kind.

Antonin öffnet eine neue Flasche Wein und stellt das Buch ins Regal. Eine halbe Stunde lang hat er verständnislos auf die gleiche Seite gestarrt. Seine Gedanken fliehen und er folgt ihnen. Der Drang zum Laufen steckt in ihm. Er fraß sich im Angstschweiß durch die Haut seiner Mutter in seinen Körper, als sie die Koffer packte und den Mann verließ, der ihr den tanzenden Funken austreiben wollte. Sie lehrte Antonin, zu laufen und er lief. Seine Jugend war eine Zeit des Denkens, wild und inspirierend. In seinem Kopf wuchsen sich Ideen zu kostbaren Manifesten aus und Antonin schrie sie in die Welt, während er gegen die Mauern lief. Dagegen, immer wieder, und sie bröckelten schon, als der Frühling in einer heißen Augustnacht blutig endete. Gebrannten Kindes Kind.

Nicol wimmert und ich streiche beruhigend über seine vernarbten Arme. Gehen lassen, denn die Geister rücken näher und retten kann ich ihn nicht. Gebrannten Kindes Kindeskind.

Auch die neue Flasche ist leer. Die Kollegen müssen es bemerkt haben, vielleicht sogar seine Studenten, aber Antonin besitzt einen guten Ruf und solange er seine Arbeit ordentlich verrichtet, wird niemand etwas sagen. Er greift erneut zum Telefon. Es ist Wahnsinn, aber er kann nicht anders. Besetzt, natürlich. Es gab diesen Moment in dem er hätte anhalten müssen, für jemand anderen da sein als sich selbst, aber er lief weiter.

Nicol wuchs in einer ruhigen Zeit auf. Platz für Überfluss und Mittelstanddramen. Trennungen, Schläge, Missbrauch hinter Vorhängen mit goldener Kante. Und niemand, um ihm das Laufen zu lehren.

Im Osten schluchzt die Alte träumend, denn sie weiß es. Die Fassaden stürzen ein und dahinter gibt es nichts.
Im Westen wehrt sich Antonin, stemmt sich gegen die Mauern, während das Dach über ihm zusammen bricht.
Und hier liegen wir, unter Nicol reißt der Boden auf. Alles Halten und Zerren bedeutet weiteren Schmerz, denn sein Funke ist nur ein mattes Glühen. Er sehnt sich nach dem Abgrund, und bevor er mich mit in die Tiefe reißen kann, lasse ich ihn gehen.

Montag, 1. Juli 2013

Elefantenmädchen - Kein Bock!









Sicherlich hatten die Eltern des Mädchens Gutes im Sinn, als sie es in dem Turnverein anmeldeten. Das Mädchen selbst hatte auch nicht allzu viel dagegen, fand es aufgrund seines freundlichen Wesens doch schnell Anschluss und freute sich über neue Bekanntschaften. Die erste Turnstunde verlief dann auch viel versprechend. Man übte sich im Dauerlauf und ohne viel Mühe tat sich das Mädchen hervor und erntete Lob. Auch die folgenden Stunden brachten Spaß, sodass das Mädchen schnell jegliche Zurückhaltung ablegte. Auch ein neuer Aufbau weckte kein Misstrauen. Eine Anlaufstrecke, ein Sprungbrett, ein vierbeiniges Gerät und eine weiche Matte für die sichere Landung verhießen nichts Beunruhigendes. Interessiert beobachtete das Mädchen, wie die Kameradinnen gazellengleich das Hindernis überwanden. Als es an der Reihe war, nahm es Anlauf, sprang ab und landete platschend auf der lederbezogenen Oberfläche des Bocks. "Nun ja, erster Versuch gescheitert, nicht aufgeben.", dachte das Mädchen noch und übersah, dass es sich auf dem Weg in die Hölle befand.

Das Körpergefühl ist eine garstige Sache und seine Entdeckung oft der Verlust der Unbefangenheit.

Am Abend begutachtete das Mädchen seine Beine und neben der rot gescheuerten Haut fiel ihm auch die Form auf, die sich deutlich von der der Gazellen unterschied. Elefantig war das Wort, das ihm in den Sinn kam. Und nicht nur ihm.

Ärgerlicherweise kam der Bock nun fast jede Stunde zum Einsatz und Lob erntete das Mädchen nur noch bei den seltenen Gelegenheiten, da es den Bock doch einmal ruckelnd übersprang und unsicher taumelnd auf der Matte landete. Und dieses Lob war so gönnerhaft, dass die Gazellen die Augen rollten und dem Mädchen ganz elend wurde. Später in der Umkleide fand es seine Straßenkleidung unter der laufenden Dusche.

In jener präpubertären Phase bildet sich nicht nur das eigene Selbstbewusstsein heraus, es steht und fällt auch mit dem Vergleich. Und es ist auch jene Phase, in der zickige Kleinmädchenspitzen die Durchschlagskraft einer Panzerfaust entwickeln. Spitzen gab es zu genüge. Abgesehen von der Tatsache, dass das Mädchen nun das Elefantenmädchen genannt wurde, fanden sich allzeit Gelegenheiten, sich über seine Unsportlichkeit lustig zu machen. Pädagogische Wahnvorstellungen und vielleicht eine kleine Prise Sadismus hielten die Gruppenleiterin vom Eingreifen ab. War das Elefantenmädchen doch auch zu verstockt, die Neckereien als Ansporn zu nehmen.

An einem Abend saß das Mädchen erschöpft vor dem Fernseher. Fast eine Stunde hatte es gedauert, den Geruch nach WC Stein aus der Wollmütze, die seine Mutter gestrickt hatte, zu waschen. Heimlich, versteht sich. Zu viele Lügen bezüglich verschmutzter/kaputter/ verschwundener Kleidungsstücke hatten seine Phantasie erschöpft. Aber dort auf dem Bildschirm ereignete sich Wunderliches und Wunderbares. Eine ganze Herde Gazellen floh in Panik vor einem Wesen, dass ihnen an Eleganz gleich war, sie aber an Geschwindigkeit übertraf. Mit leuchtenden Augen beobachtete das Mädchen, wie die Gepardin schließlich eine Gazelle zu Boden riss und ihr die langen Zähne in den schlanken Hals grub.

Am nächsten Tag wechselte das Elefantenmädchen in die Laufgruppe, deren Trainerin sich von der ausgeprägten Wadenmuskulatur beeindruckt zeigte. Ab und an versammelten sich einige der Gazellen am Rand der Laufbahn und kommentierten, bis man sie verscheuchte. Ein paar Mutige schlichen sich in die Umkleidekabine der Läufer, um sich dem Vandalismus zu widmen und den Terror durch seine Fortsetzung zu rechtfertigen.


Allein, das störte das Elefantenmädchen nicht mehr, denn eins wusste es: Entweder würde es in wenigen Jahren vollends zu einer wunderschönen Gepardin heran gereift sein, oder es würde sich eine Schrotflinte besorgen und die Dinge anderweitig regeln.